Nordfeuer - Kriminalroman
der diese Polizeistelle leitete, seit er hier seine Ausbildung
begann, quasi diese Dienststelle verkörperte, das Herzstück, die gute Seele, der,
der alles zusammenhielt, wollte aufhören, sich zur Ruhe setzen, das Handtuch werfen?
»Ich habe das Angebot bekommen,
früher in Rente zu gehen und ich denke, es ist genau das Richtige. So bleibt Margrit
und mir auch mal Zeit füreinander.«
Thamsen konnte gut verstehen, wenn
die Ehefrau seines Vorgesetzten gerne mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen wollte.
Aber war das der tatsächliche Grund, warum Rudolf Lange früher als üblich den Dienst
quittieren wollte? Immerhin war die Polizei und vor allem diese Dienststelle sein
Leben.
»Das ist aber nicht alles, oder?«
Rudolf Lange blickte auf. Nur ganz
leicht schielte er zu ihm hinüber. Ganz offensichtlich fühlte er sich ertappt. Thamsen
war halt einer seiner besten Männer, dem konnte er nichts vormachen.
»Ich bin einfach schrecklich müde«,
antwortete er leise. Sein ganzes Leben lang hatte er gegen das Verbrechen gekämpft.
Diebstahl, Einbruch, Mord. Alles hatte er erlebt. War in die tiefsten Abgründe des
menschlichen Daseins vorgedrungen – Gewalt, Hass, Wahnsinn. Er hatte immer geglaubt,
mit seiner Arbeit die Welt ein wenig besser machen zu können. Aber stimmte das?
Diese Frage hatte er sich in den letzten Wochen immer häufiger gestellt. Egal, wie
viele Diebe, Mörder oder Räuber er dingfest machte. Es kamen immer neue. Aus irgendwelchen
Löchern krochen sie hervor – raubten, stahlen, mordeten. Hinzu kamen die Machtspielchen
innerhalb des Polizeiapparates. Die Streitereien um die Zuständigkeiten. Die ständigen
Rechtfertigungen gegenüber dem Polizeirat. Persönliche Befindlichkeiten waren wichtiger
als der Kampf gegen das Verbrechen.
»Ich kann einfach nicht mehr«, flüsterte
Rudolf Lange.
»Du gibst auf.«
Thamsen war
enttäuscht. Nie hatte er seinen Vorgesetzten derart schwach erlebt. Und statt ihm
zu erklären, dass es einfach nicht mehr ging, er körperlich am Ende war, nickte
Rudolf Lange lediglich und zerstörte damit das Bild vollends, das Thamsen von ihm
hatte. Wahrscheinlich hätte der Mitarbeiter es sowieso nicht verstanden. Er hatte
selbst nicht geglaubt, jemals an diesen Punkt zu gelangen. Und es war auch nicht
nur die aussichtslose Vorstellung, gegen das ewige Verbrechen sowieso nichts ausrichten,
den Lauf der Dinge nicht aufhalten, die Welt nicht verbessern zu können. Sein Körper
streikte einfach, verweigerte ihm jegliche Zusammenarbeit, war wie gelähmt und oft
war es Rudolf Lange, als stünde er mehr neben sich, als bei Verstand zu sein.
Langsam erhob er sich von dem unbequemen
Stuhl. Es tat ihm irgendwie leid, Thamsen nicht verständlich machen zu können, warum
er so handelte. Aber konnte ein anderer überhaupt verstehen, wie er sich fühlte?
Daher gab es für ihn nur noch eines zu tun.
»Ich habe dich als meinen Nachfolger
vorgeschlagen.«
»Donnerwetter«, entfuhr es Haie, als sie auf die Auffahrt zum Haus
von Marlenes Eltern an der Elbchaussee im Hamburger Westen fuhren. Er hatte ja keine
Ahnung gehabt, aus welch wohlhabender Familie die Freundin stammte.
Marlene hingegen war der unübersehbare
Reichtum ihres Stiefvaters eher unangenehm. Vor allem, weil ihre Mutter ihn gerne
zur Schau stellte.
Gesine Liebig selbst kam eigentlich
aus eher ärmlichen Verhältnissen. Ihr erster Mann, Marlenes leiblicher Vater, war
ein einfacher Hafenarbeiter gewesen und hatte die Familie mehr schlecht als recht
durchbringen können. Nach seinem plötzlichen Tod hatte Gesine Liebig mit aller Macht
versucht, ihrer Tochter und auch sich selbst etwas bieten zu können und in Marlenes
Augen ihren Vater verraten, als sie sich Reiner Liebig geradezu an den Hals geworfen
hatte. Liebe konnte es jedenfalls nicht gewesen sein, was ihre Mutter für den erfolgreichen
Unternehmer empfunden hatte, als sie ihn heiratete und damit zu Marlenes Stiefvater
machte. Marlene hatte seitdem nicht nur zu ihrem Stiefvater ein sehr distanziertes
Verhältnis, auch von ihrer Mutter hatte sie sich zurückgezogen und die Beziehung
der beiden war nicht gerade als blendend zu bezeichnen.
Nur auf Toms Drängen hin hatte Marlene
zugestimmt, ihre Mutter die Hochzeit ausrichten zu lassen. Obwohl sie sich jetzt
auf eine schöne Feier freute, denn sie wusste, Gesine Liebig hatte keine Kosten
gescheut, um ihrer Tochter eine perfekte Hochzeit zu ermöglichen.
»Da sind wir«, bestätigte Tom dem
Freund noch einmal, dass sie
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