Nordfeuer - Kriminalroman
»soviel wie er arbeitet, wird
er nicht viel Zeit für die beiden haben. Überleg’ mal. Ständig im Einsatz, auch
am Wochenende und feiertags. Was bleibt denn da noch?«
»Das ist doch nur jetzt so, weil
er den Mord aufklären muss«, verteidigte Marlene ihren Trauzeugen. Sie war der Meinung,
Dirk Thamsen konnte nur ein ganz hervorragender Vater sein. Warum? Das konnte sie
nicht wirklich beschreiben. Aber ihrer Meinung nach hatte er alles, was man sich
von einem Vater wünschen konnte. Seine Kinder waren bestimmt stolz auf ihn.
»Und dabei unterstützen wir ihn
ja auch«, nickte Haie und lenkte das Thema wieder auf den gestrigen Besuch bei Erk
Martensen und dessen Freund.
»Ich denke, es könnte sich lohnen,
noch einmal Fritz und Ingrid zu besuchen. Mich würde interessieren …«
Unvermittelt stand Thamsen wieder
an ihrem Tisch. Er war kreidebleich.
»Ich muss leider sofort los. Mein
Vater …« Ihm versagte die Stimme. Marlene stand auf und nahm seine Hand.
»Schlimm?«, fragte sie leise. Er
nickte.
Gemeinsam begleiteten sie ihn in
die Halle, in der sie sich flüchtig verabschiedeten.
»Melde dich bitte, wenn du Hilfe
brauchst«, rief Marlene, ehe sich die Aufzugtüren schlossen und er hinab in die
Tiefgarage fuhr.
»Ich habe gar keinen Appetit mehr.«
Statt zurück in den Frühstücksraum
gingen sie hinunter an die Elbe. Es war ein herrlich sonniger Tag, etliche Leute
wanderten bereits auf dem schmalen Weg, der direkt hinter dem Hotel entlang führte.
»Hat er eigentlich gesagt, was sein
Vater hat?«, fragte Haie, nachdem sie eine Weile schweigend flussabwärts gegangen
waren.
Die beiden Freunde schüttelten den
Kopf. Dirk Thamsen hatte ihnen gegenüber selten etwas von seiner Familie erwähnt.
Sein Vater lag im Krankenhaus. Das war alles, was sie wussten.
»Aber wir haben auch nicht gefragt«,
flüsterte Marlene.
Dirk Thamsen hatte sie zum Traualtar
begleitet, ihre Ehe mit Tom bezeugt, mit ihnen getanzt und gefeiert. Aber eigentlich
wusste sie gar nichts von ihm. Und das Schlimme daran war, sie hatte sich auch nicht
interessiert. Sie war in den letzten Wochen nur mit sich und der Hochzeit beschäftigt
gewesen und hatte die Menschen um sich herum völlig vergessen. Für die hatte es
nämlich noch andere Dinge außer Brautschmuck, Menüs und Hochzeitstorte gegeben.
Und dabei hätte sie eigentlich die Zeit gehabt, sich um ihre Freunde zu kümmern.
Zumindest fragen hätte sie können.
»Also mir hat er auch nichts erzählt«,
versuchte Haie sie zu beruhigen. »Ich glaube einfach, er wollte auch nichts sagen.
Wahrscheinlich war er froh, nicht gefragt zu werden.«
»Möglich«, nickte Tom, spürte aber
trotzdem eine Art schlechtes Gewissen. Nun hatten sie schon so viel mit dem Kommissar
erlebt – Mordfälle zusammen aufgeklärt – und wussten dennoch so gut wie nichts von
ihm.
»Wir können ihn ja heute Abend mal
anrufen«, schlug er vor.
Sie gingen schweigend an der Elbe
entlang. Ein riesiges Containerschiff fuhr vorbei und ließ große Wellen an das Ufer
schwappen. Jeder hing seinen Gedanken nach, die durch die Sorge um Dirk Thamsen
bestimmt wurden. Vergessen der Trubel der letzten Tage, der Mordfall, die Brände.
Ihr Freund – und als solchen sahen sie den Kommissar mittlerweile – hatte Kummer,
brauchte vielleicht ihre Hilfe und Unterstützung. Das allein war es, was im Moment
zählte.
Dirk Thamsen wusste nicht genau, wie er von der Elbchaussee bis zur
Autobahnauffahrt Hamburg Othmarschen gekommen war. Er fuhr wie ein Irrer auf die
A7 auf, hielt sich an keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Seine Mutter hatte ihn angerufen
und gesagt, er müsse sofort kommen. Sie hatte geweint am Telefon, das hatte ihn
sehr unruhig werden lassen, denn das tat sie sonst nie. Es musste also schlecht
um seinen Vater stehen. Vielleicht hatte er einen Rückfall?
Magda Thamsen hatte ihm am Telefon
jedoch nichts sagen wollen. »Bitte, komm so schnell wie möglich ins Krankenhaus«,
hatte sie ihn nur unter Tränen gebeten. Dirk Thamsen gab ordentlich Gas.
Er hatte Glück, denn heute, am Samstag,
war die Autobahn relativ frei, da kein normaler Berufsverkehr herrschte. Lediglich
die ersten Dänemark-Urlauber waren zum Bettenwechsel unterwegs. Aber da noch keine
Sommerferien waren, hielt sich das Verkehrschaos Richtung Norden in Grenzen.
Schon bald hatte er das Kreuz HH-Nordwest
hinter sich gelassen. Er selbst nahm das allerdings gar nicht wahr. Wie ein Roboter
gab er Gas, schaltete und bremste.
Der Anruf
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