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Nordmord

Titel: Nordmord Kostenlos Bücher Online Lesen
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Dirk einen Blick zu, der ihm sagte, dass sein Vater noch nichts von der
ganzen Sache wusste.
    Er war zwar gerne Großvater, hatte die Kinder aber ungern zu
oft in seiner Nähe. Er brauchte seine Ruhe. Deshalb war er immer froh, wenn
Dirk die Enkel wieder abholte.
    »Und was macht die Arbeit, Junge?«
    Er wusste, dass sein Vater sich nicht wirklich dafür
interessierte, was er tat, sondern nur der Höflichkeit wegen fragte. Deshalb
antwortete er auch nur ganz knapp, dass er viel zu tun und wenig Zeit für die
Kinder habe.
    »Und genau deswegen ist Dirk ja hier. Iris ist ganz plötzlich
zur Kur und er hat gefragt, ob die Kinder so lange bei uns bleiben können.«
    Sie sah, dass er tief Luft holte. Gleich würde er Dirk eine
Strafpredigt darüber halten, dass man ihnen, und ganz besonders seiner Mutter,
diese Belastung nun wirklich nicht zumuten konnte. Besser, sie kam ihm zuvor.
    »Ich habe gesagt, das sei überhaupt kein Problem, stimmts,
Hans?«

18
    Professor Voronin eilte über den Flur. Es sah
aus, als ob er schwebte – wie ein Halbgott in Weiß. Schwester Hansen hatte nach
ihm gerufen. Der Zustand des kleinen Mädchens hatte sich drastisch
verschlechtert. Es hatte zunächst gekrampft und war dann bewusstlos geworden.
Aufgeregt stand die Schwester neben dem Bett und hantierte an einigen
Apparaturen herum.
    Professor Voronin warf nur einen flüchtigen Blick auf einen
der Monitore und verlangte sofort nach dem Defibrillator. Aufgrund des viel zu
hohen Kaliumgehaltes im Blut der kleinen Patientin war es zunächst zum
Kammerflimmern gekommen. Jetzt stand das Herz allerdings ganz still. Die
horizontale Linie auf dem Monitor und der durchgängig schrille Ton ließen
keinen Zweifel aufkommen.
    Nicht schon wieder, dachte Voronin und schrie der Schwester
zu, sie solle 1mg Supra aufziehen. Der Defibrillator war geladen und er presste
die Elektroden auf den Brustkorb der kleinen Patientin.
    Der Monitor zeigte keinen Erfolg. Die waagerechte Linie zog
unbeirrt von links nach rechts über den kleinen Bildschirm. Erneut verabreichte
er das Adrenalin und begann mit der Herzmassage. Schwester Hansen beatmete die
Patientin mithilfe eines Beutels.
    Der zweite Schock war erfolgreich. Das kleine Herz begann,
wieder zu schlagen, die Linie auf dem Monitor zeigte erste unregelmäßige
Kurven. Er verordnete noch 30mg Lidocain und einen Glucose-Tropf und überließ
die kleine Patientin anschließend einem Assistenzarzt.
    Als er am Schwesternzimmer vorbeikam, sah er, wie sich eine
Mitarbeiterin am Spind von Heike Andresen zu schaffen machte.
    »Was tun Sie da?«
    Die Schwester drehte sich erschrocken zu ihm um. In der Hand
hielt sie ein Deospray.
    »Ich wollte, ich dachte …«, stotterte sie.
    Er trat ins Zimmer, warf einen Blick in den Schrank. Die
Schwester stand immer noch wie versteinert neben ihm.
    »Gehen Sie. Darum werde ich mich kümmern.«

     
    Marlene saß an ihrem Schreibtisch und blätterte
in einem alten Fotoalbum. New York. Central Park. Empire State Building. Twin
Towers. Vor ein paar Jahren hatte sie in den Semesterferien einige Wochen mit
Heike in den USA verbracht. Sie hatten sich einen alten Wagen gekauft und waren
einfach so herumgefahren. Jeden Tag Sonne, Burger, endlose Weite, riesige
Gebäude und das Gefühl dieser grenzenlosen Freiheit. Sie schlug
gedankenverloren eine Seite nach der anderen um. Eine Träne tropfte auf eines
der Fotos.
    »Was machst du?«
    Sie klappte eilig das Album zu, fuhr sich mit der Hand über
ihr Gesicht und drehte sich zu Tom um.
    »Ich möchte bei der Beerdigung ein paar Worte sagen.«
    Er hockte sich neben sie. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen
gerötet. Er wusste, wie sehr sie der Verlust der Freundin schmerzte. Und mehr
noch quälte sie wohl die Tatsache, dass Heikes Mörder immer noch frei
herumlief. In der Nacht hatte sie sich im Traum neben ihm unruhig hin und her
geworfen. Ungern ließ er sie jetzt allein, aber er hatte einen Termin in
Flensburg. Als er sie zum Abschied küsste, fragte sie mit verzweifeltem Blick:
    »Meinst du, sie kriegen das Schwein?«
    Er nickte.
    »Da bin ich mir ganz sicher.«
    Nachdem er gegangen war,
schlug sie eines ihrer Bücher zum ›Schimmelreiter‹ auf. Die Arbeit würde sie
ablenken. Schon bald war sie in die Schilderungen des Autors über den Ursprung
der Novelle vertieft. Storm hatte den ›gespenstigen Reiter‹ gar nicht erfunden,
sondern es konnte davon ausgegangen werden, dass er eine Vorlage aus

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