Nordmord
angrenzenden Räume. Überall
standen teure antike Möbel, an den Wänden hingen wertvolle Gemälde. Trotz der
Kosten und Mühe, die man sich beim Einrichten des Raumes gemacht hatte, wirkte
alles kalt und ungemütlich.
Sie nahmen auf einer kleinen Sitzgarnitur Platz, Gesine
Liebig bot ihm einen Sherry an, als sich schließlich auch Marlenes Vater zu
ihnen gesellte. Jetzt wurde Tom schlagartig bewusst, wieso ihm der Name Liebig
so bekannt vorgekommen war. Er erkannte den großen, stattlichen Herrn sofort.
Er war der Inhaber einer riesigen Reederei, die seit Generationen in
Familienbesitz war. Letztes Jahr war er von einer bekannten
Wirtschaftszeitschrift zum Unternehmer des Jahres gekürt worden. Überrascht
blickte er Marlene an, doch die war aufgestanden, um ihren Vater zu begrüßen.
Wie ein braves Schulmädchen gab sie ihm die Hand und er spürte, dass in diesem
Raum nicht nur die Einrichtung Eiseskälte verströmte.
22
Irina lag auf einer der Matratzen und tat, als
ob sie schliefe. Seitdem sie hier war, hatte sich nicht viel ereignet. Das andere
Mädchen hatte beinahe die ganze Zeit geschlafen, nur ab und zu war die Frau
hereingekommen, hatte ihnen zu trinken und etwas Suppe gebracht.
Sie hatte einmal versucht, mit der anderen zu sprechen, doch
die hatte nur ihren Finger auf ihre Lippen gelegt und geflüstert, dass es
besser sei, nicht miteinander zu reden.
Oft hatte Irina aus dem Fenster geschaut. Draußen schien die
Sonne, auf der Straße konnte sie Autos fahren sehen. Viele Autos und größere,
als sie jemals gesehen hatte. Sie hatte sich gefragt, wo sie sich wohl befand.
Wie weit weg war ihr Zuhause? Und was würde hier mit ihr passieren?
Sie hatte Angst. Immer wenn sie draußen auf dem Flur
Geräusche hörte, legte sie sich schnell auf eine der Matratzen, zog das Laken
bis zum Kinn und schloss die Augen. Meistens gingen die Männer zu dem anderen
Mädchen, ein paar Mal hatten sie jedoch auch auf sie heruntergeblickt und sich
dabei unterhalten. Irina hatte nichts verstanden, nur gehofft, dass sie bald
wieder gehen würden, sie in Ruhe ließen.
Jetzt lag sie wieder ganz still da und horchte auf die
Geräusche jenseits der Zimmertür. Diese wurde plötzlich geöffnet, sie hörte
Schritte. Ein Mann beugte sich über ihren Körper, sie konnte Zigarettenrauch
riechen und presste die Augenlider noch fester zusammen. Wenn er doch nur
wieder gehen würde, dachte sie. Er soll mich in Ruhe lassen. Sie atmete heftig,
die Angst war beinahe unerträglich. Es war still, aber sie spürte seinen Atem
auf ihrem Gesicht. Langsam öffnete sie die Augen und erschrak. In der Hand
hielt der Mann eine ziemlich große Spritze.
Kommissar Thamsen schlug das Tagebuch auf und
begann, zu lesen:
03.01.1996
Mein zweiter Tag in der neuen Klinik und am liebsten würde
ich schon wieder gehen. Die Schwestern sind zwar alle ganz nett und auch die
Patienten sind gut drauf, aber Professor Voronin ist äußerst merkwürdig. Nicht
nur, dass er ein absoluter Sklaventreiber ist – er schiebt sämtliche Arbeit
seinen Mitarbeitern zu und rührt selbst nicht einen Finger –, zusätzlich ist er
komisch. Kann gar nicht genau sagen, warum. Er rauscht in seinem weißen Kittel
durch die Station. Habe ihn noch nicht einmal lächeln sehen. Bei den Schwestern
ist er nicht besonders beliebt, das habe ich schon rausgefunden. Dass so jemand
überhaupt Chefarzt werden konnte, wahrscheinlich nur über Vitamin B. Besonders
herausragende Leistungen kann ich mir bei dem nicht vorstellen. Zumindest
keine, die er selbst erbracht hat. Bin mal gespannt, wie sich das entwickelt.
Aber momentan gibt es nicht wirklich eine Alternative. Der einzige Vorteil an
diesem Job ist, dass ich in der Nähe von Marlene sein kann. Sie hat mir schon
sehr gefehlt, seit sie aus Hamburg weggezogen ist. Für sie war es vermutlich
besser, mal rauszukommen, aber ich habe sie wahnsinnig vermisst. Ob dieser Tom
allerdings der Richtige ist? Bin mir nicht sicher, aber Marlene hat halt
momentan die rosarote Brille auf und schwebt auf Wolke sieben. Ist sicher auch
ein netter Typ, so genau kenne ich ihn ja auch nicht, aber mein Gefühl sagt
mir, da ist was. Ach, ich weiß auch nicht, wahrscheinlich nur blinder Alarm.
Bin vermutlich nur eifersüchtig, denn seit es Tom gibt, hat Marlene merklich
weniger Zeit für mich. Klar, sie hat auch noch den Job im Institut. Bin ich ja
eigentlich ganz froh drüber, sonst würde sie sich nur
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