Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
wenigen Minuten bin ich tot. Es gibt keinen Weg zurück. Nicht einmal, wenn in diesem Augenblick ein Nachbar hereinkäme, um seinen Müll wegzubringen, hätte ich eine Chance. Ich bin rettungslos verloren. Es ist so schön, nichts mehr zu empfinden. Und denen, die hinterher aufräumen müssen, habe ich es so leicht wie möglich gemacht. Ich habe keinen Blutstropfen auf dem Fußboden hinterlassen.
Ich schäme mich. Glaub mir, ich schäme mich für diese Gedanken.
56
Fredrik betrat den Vernehmungsraum, der sich in der Mitte des Gangs befand und eine direkte Verbindung zum Arrest hatte. Stina Hansson und der Anwalt, den man ihr organisiert hatte, warteten bereits. Roger Lindell war einer der erfahrensten Strafverteidiger Gotlands. Er ging auf die sechzig zu, war aber immer noch eher blond als grau. Der kurz geschorene Bart, der das kräftige Kinn zierte, changierte zwischen grau und rötlich. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein hellblaues Hemd, bei dem der oberste Knopf offen stand.
Göran hatte Stina Hansson gleich nach ihrer Ankunft in Visby vernommen. Er hatte ihr mitgeteilt, dass sie des Mordes an Malin und Axel Andersson verdächtigt wurde. Sie hatte die Tat bestritten.
Fredrik begrüßte Stina Hansson und Roger Lindell und legte den Stoß Papier, den er bei sich hatte, auf den Tisch. Ihm entging nicht, dass Stina Hansson die Augen aufriss, als sie die Schwarz-Weiß-Bilder erblickte, die ganz oben lagen.
»Was? Wo … woher haben Sie …«
Sie sah ihn mit glühenden Wangen an.
Fredrik verfluchte seine eigene Schlampigkeit. Es war taktisch ungeschickt, sie die Fotos jetzt schon sehen zu lassen.
Er versuchte den Schaden zu beheben, indem er den Stapel Nacktfotos umdrehte. Außer den ausgedruckten Seiten aus Malins Kochblog hatte er die Präsentation von Henriks und Malins Haus auf der Homepage von Gotlandsreisen und auf Henriks eigener Webseite dabei. Dazu zwei Zeitungsausschnitte: das Interview mit Malin und Henrik in Gotlands Allehanda und eine Reportage über die Inneneinrichtung des Hauses in Kalbjerga aus Elle Decoration .
»Haben Sie meine Wohnung durchsucht?«
Der Gedanke schien ihr erst jetzt gekommen zu sein.
»Ja, wir haben eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Bei den Ermittlungen wegen Kapitalverbrechen können wir auf die Intimsphäre leider keine Rücksicht nehmen.«
»Ich habe aber nichts mit diesem Verbrechen zu tun«, erklärte sie mit schwankender Stimme.
»Das sagten Sie bereits, es deutet aber einiges auf das Gegenteil hin.«
Stina Hansson riss den Mund auf, bekam aber kein Wort heraus. Entgeistert starrte sie Fredriks Hemd an.
»Ich würde gerne wissen, was Sie am 4. Juni gemacht haben.«
»Am 4. Juni«, wiederholte sie. »Warum denn? Das ist doch drei Monate her.«
»Stimmt, und ich möchte wissen, was Sie an dem Tag gemacht haben.«
Sie sah ihn immer noch so skeptisch an, als würde er sie auf den Arm nehmen. »Am 4. Juni … was war das für ein Wochentag?«
»Ein Donnerstag«, antwortete Fredrik.
»Aha«, erwiderte sie zögerlich und blickte zur Seite. »Wahrscheinlich habe ich gearbeitet.«
»Laut Ihrem Arbeitgeber hatten Sie sich freigenommen.«
Ihre gleichgültige Miene verflog.
»Ach, genau, am 4. Juni war das. Es ist nicht leicht, sich nach so langer Zeit an jeden einzelnen Tag zu erinnern«, fügte sie rasch hinzu.
»Natürlich nicht«, sagte Fredrik. »Aber an jenem Donnerstag hatten Sie sich also freigenommen.«
»Ja. Am Freitag auch.«
»Wieso?«
»Es gab keinen besonderen Grund, ich hatte einfach Lust dazu. Ich hatte ziemlich viel gearbeitet in der letzten Zeit, und das Wetter war so schön. Deshalb habe ich mich von einem Tag auf den anderen dazu entschieden. Wir haben Leute, die jederzeit einspringen können, wenn jemand krank wird, und daher war es kein Problem.«
»Von einem Tag auf den anderen? Was bedeutet das konkret?«
»Bedeutet?«, fragte Stina zurück.
Fredrik hörte Feindseligkeit aus ihrer Stimme heraus. »Wann genau haben Sie sich entschlossen, sich freizunehmen?«
»Einen Tag vorher. Da habe ich Gabriele gefragt. Das ist meine Chefin.«
»Sie hatten also ein langes Wochenende von vier Tagen«, stellte Fredrik fest.
Stina nickte.
»Was haben Sie in der freien Zeit gemacht?«
Sie dachte nach.
»Am Donnerstag habe ich einige Stunden am Strand verbracht. Gebadet habe ich nicht, aber es war ein sehr schöner Tag. Ich habe mich hingelegt und gelesen. Kaffee hatte ich auch dabei.«
»Es können aber nicht viele Leute dort gewesen
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