Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
sechsmonatige Phase der Schwermut. Der Hausarzt der Familie gelangte nach einem kurzen Gespräch zu der Diagnose »klinische Depression«, und es wurde mit einer Medikation begonnen. »Es traf mich wie eine Tonne Ziegelsteine. Ich entwickelte einen starken Hass auf mich und mein kümmerliches, fehlerhaftes Hirn.«
Acht Monate und zahlreiche misslungene Versuche mit Antidepressiva später geriet Brooks zusätzlich in eine manische Phase, die zumindest teilweise eine Folge der Medikamente gewesen sein dürfte. »Ich hatte das Gefühl, dass ich aus einem sehr speziellen Grund auf der Welt war und dass ich GROSSES vollbringen würde. Als die Diagnose ›schizoaffektive Störung‹ gestellt wurde, blickte ich überhaupt nicht mehr durch. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion wurde ziemlich verschwommen.«
In seiner Krankenakte steht, Brooks habe wahnhafte Vorstellungen von einer Nachricht gehabt, die er entschlüsseln müsse, um den Planeten zu retten, und er müsse ein Buch über Heilung schreiben, das er allen Krankenhäusern der Stadt zukommen lassen werde. Die Wahnvorstellungen verebbten im Verlauf des nächsten Jahres, und die Ärzte einigten sich schließlich auf die akkuratere und viel weniger stigmatisierende Diagnose »bipolare Störung«. Aber der psychologische Effekt der wechselnden Etiketten und ständig neuen Therapien war eine einzige Quälerei. »Ich dachte, ich bin falsch, basta, und alle anderen sind richtig.«
Jahrelang hatte Brooks große Ängste, lähmende Furcht, Seelenqualen und das Gefühl, von Freunden und Familie abgekoppelt zu sein. Er fürchtete, die zahlreichen Medikamente hätten seinen Gehirnstoffwechsel dauerhaft in Unordnung und ihn auf eine schiefe Bahn gebracht, die immer steiler abwärts führte. Seine Dilemma zwang ihn zu der Entscheidung, sich entweder umzubringen oder rückhaltlos dagegen anzukämpfen.
»Auf dem Grund meines Herzens war ein unauslöschlicher Funke, der Nein sagte. Der sagte: Du bist dein eigener Herr und entscheidest selbst, was normal ist und was nicht. Ich weigerte mich, mein Leben sinnlos zu vertun.« Brooks begann sich eingehend mit der kognitiven Verhaltenstherapie zu beschäftigen und legte sich eigene, auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Techniken zurecht, mit denen er seine emotionalen und kognitiven Zustände analysierte. Diese gruppierte er zu der »Linse«, wie er sie nannte. »Ich wusste, dass mit dem sprichwörtlichen Glas, das meine Sichtweisen, Überzeugungen, Seelenzustände formte, etwas ganz und gar nicht stimmte, und ich machte mich daran, das Glas zu korrigieren, damit ich wieder klar hindurchschauen und gesund werden konnte.«
Es funktionierte. Mithilfe der »Linse« und anderer Methoden brachte es Brooks während der letzten zwölf Jahre fertig, sich das Leben auszumalen, das er führen wollte, und gesund genug zu sein, um es umzusetzen. Er wurde Filmemacher, begann öffentlich über seine Erfahrungen zu sprechen und ließ viele Metaphern seiner Reise durch die Psychose in seinen ersten Film Kenneyville einfließen. Er nahm auch das Buch in Angriff, das er schon damals hatte schreiben wollen; es heißt Die Linse und nähert sich der Fertigstellung. »Natürlich hat das Leben Höhen und Tiefen. Aber aus dem Teufelskreis der Ängste, Paranoia, Trauer und Furcht, in dem ich früher gefangen war, bin ich ausgebrochen. Ich bin für alles in meinem Leben dankbar, auch für diese Reise. Sie hat mich stärker gemacht, und ich empfinde jetzt eine viel größere Zugehörigkeit zu mir und zu anderen.«
Bob und Sarah: Die Verwechslung von Trauer und Depression
Sarahs 33-jähriger Sohn Bob nahm sich mit einer Kombination aus Antidepressiva und Schlaftabletten das Leben. Die Tabletten hatte ihm ein Arzt, der Bob nur ein paar Mal und insgesamt nicht länger als dreißig Minuten gesprochen hatte, in einem Zeitraum von acht Monaten beiläufig verschrieben und ihre Einnahme nachlässig überwacht; kein einziges Mal hatte er seinen Patienten gefragt, wie sein Leben verlief. Bob hatte sich durch eine schmerzhafte, langwierige Scheidung und einen schwierigen Sorgerechtskampf gequält und darüber den Mut verloren. Er hätte dringend eine Psychotherapie, zumindest eine Beratung gebraucht, um mit dem seelischen Stress und seinen praktischen Problemen zurechtzukommen, aber die wurde ihm nie angeboten. Alles, was Bob bekam, waren nutzlose Pillen in verschiedenen Kombinationen und immer höheren Dosen – und die wurden schließlich das Mittel, mit dem er
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