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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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um den Preis, dass sie wie betäubt war; sie begann zu sabbern, sah Doppelbilder und kam sich vor wie ein Zombie.
    »Diese ganzen Nebenwirkungen zählte ich dem Psychiater auf, und er nahm jedes Mal eine Änderung vor. Ritalin, um mich aufzuwecken. Seroquel als Schlafmittel. Die Geodon-Dosis reduzieren wir ein bisschen, oder wir erhöhen sie, denn mit einer Dosiserhöhung lassen sich paradoxerweise manchmal die Nebenwirkungen umgehen. Und nehmen wir vielleicht Abilify hinzu, oder Risperdal? Meistens kam was dazu, selten strich er was weg. Diese ganzen Medikamente – und seine sonderbaren Erklärungen – müsste ich für die nächsten paar Jahre nehmen, sagte er. In meinem Kopf drehte sich alles, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen und verlor allmählich den Überblick.« Als ihr Zustand sich verschlechterte, meinte Dr.   Z., Myra habe eine Bipolar-II-Störung, und verschrieb ihr noch weitere Medikamente.
    Myras Psychotherapeutin äußerte Zweifel. Sie sah keine Anzeichen für eine Zwangs-, Borderline-Persönlichkeits- oder Bipolar-II-Störung, und dass Dr.   Z. sie kein einziges Mal wegen Myras Symptomen oder ihrem Hintergrund konsultierte, ja nicht einmal ihre Anrufe erwiderte, stimmte sie argwöhnisch. »Ich wusste, dass ich mich zwischen meiner Therapeutin und meinem Psychiater entscheiden musste«, sagte Myra. »Ich fühlte mich wie ein Kind geschiedener Eltern – hin- und hergerissen zwischen zwei widerstreitenden Auffassungen davon, was mit mir nicht stimmte. Während des Entzugs von Celexa, als meine Depression schlimmer wurde, hatte ich das Gefühl, ich müsste nach einem Rettungsanker greifen. Ich war hilflos ins Trudeln geraten, nachts schlief ich nicht, tags war ich nicht wach. Und meine Gedanken drehten sich immer wieder um die Fehler, die ich in meinem Leben gemacht hatte, und die vielen verpassten Gelegenheiten, mich anders zu entscheiden; in einer Endlosschleife liefen in meinem Kopf die Bilder aus der Vergangenheit und die schlechten Erinnerungen ab. Mir blieb doch gar nichts anderes übrig, als bei meinem Psychiater zu bleiben.«
    Keine kluge Entscheidung, aber eine nachvollziehbare. Myra hoffte verzweifelt auf Erleichterung, und Dr.   Z. hatte immer wieder neue Ideen – hier ein Beruhigungsmittel, dort ein Aufputschmittel. Es war der ständige Versuch, Nebenwirkungen durch Medikamente aufzuheben, die ihrerseits wieder Nebenwirkungen hatten. Zum Glück ging die Sache doch noch gut aus. Irgendwann ging Myra zu einem anderen Psychiater, der sie ihren zahlreichen Medikamenten nach und nach entwöhnte. Heute nimmt sie nur noch Lamictal und Wellbutrin in geringer Dosierung und verspürt keine Nebenwirkungen.
    »Keine Ahnung, ob sie irgendwas bewirken, aber ich habe zu viel Angst vor dem, was passieren könnte, wenn ich die Medikamente absetze. Zum Glück hatte ich keine Selbstmordideen mehr, seitdem ich so viel weniger Medizin nehme, nur kurze depressive Phasen. Die kommen meistens in den Leerzeiten zwischen zwei Aufträgen, wie sie bei Film und Fernsehen normal sind. Aber nie mehr werde ich mich auf einen derart abartigen Medikamentencocktail setzen lassen, und seit Dr.   Z. hat auch niemand die Diagnosen ›Zwangsstörung‹, ›Borderline-Persönlichkeitsstörung‹ oder ›bipolare Störung‹ bestätigt. Heute setze ich auf Bewegung, auf Freunde, Meditation, gesunde, vitaminreiche Ernährung, und ich würde gern wieder mit einer Psychotherapie anfangen, wenn ich das Geld dazu hätte und auch einen regelmäßigeren Stundenplan. Die Experten, die alles als krankhaft bezeichnen und die aberwitzigsten Medikamente verschreiben, finde ich besorgniserregend.«
    Während der ganzen Zeit klammerte sich Myra an die Arbeit wie an ein Rettungsfloß, stand die Nebenwirkungen durch und hatte trotz allem viel beruflichen Erfolg. Sie bekam ein Stipendium für einen Dokumentarfilm, der für das Sundance-Filmfestival ausgewählt wurde. Inzwischen ist sie eine gefragte Regisseurin und bekommt in einer sehr konkurrenzorientierten Branche regelmäßig Aufträge. Und sie ist durch Schaden klug geworden.
    Marias Geschichte: Übersehener Drogenmissbrauch
    Maria hatte ungestüme Eltern und keine leichte Kindheit. »Mein Vater war ein Getriebener, er kam aus bescheidensten Verhältnissen, war unbeherrscht und hatte kein Verständnis für ›emotionale Frauen‹. Leider war meine Mutter eine sehr emotionale Frau und sehr fragil, zumal sie unter chronischen Depressionen litt.« Beide Eltern waren häufig

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