Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
sein Leben beendete.
Sarah hatte gesehen, wie Bob immer mehr litt, und ahnte, dass es ein katastrophales Ende mit ihm nehmen könnte, aber ihre vielfältigen Versuche, ihm zu helfen, waren vergeblich. Nach seinem Tod war sie verständlicherweise am Boden zerstört. »Ich war wie betäubt, in einem tranceähnlichen Zustand, ich weinte ununterbrochen, konnte nicht schlafen, nicht essen, konnte mich nicht konzentrieren, nicht arbeiten. Wie schön mein Leben gewesen war, wurde mir erst klar, als ich gar kein Leben mehr hatte. Meine Familie konnte mir nicht helfen – mein Vater ist sehr katholisch und zog sich von mir zurück, meine Schwester fing wieder an zu trinken.«
Zwei Wochen lang brachte Sarah in tiefer, fassungsloser Trauer zu. Freunde rieten ihr, zu einem Arzt zu gehen: Das werde ihr helfen, den Schmerz loszuwerden, und sie wieder in Gang bringen. Sie befolgte den Rat. Nach einem kurzen Gespräch erklärte ihr der Arzt, sie sei klinisch depressiv, verschrieb ihr Lexapro und bestellte sie einen Monat später noch einmal zu sich. »Ich sagte, dass mein Sohn Lexapro genommen und sich damit umgebracht hatte, und dass ich überhaupt keine Medikamente nehmen wollte, nachdem ich gesehen hatte, wie schlecht sie ihm bekommen waren. Der Arzt tat meine Ängste und meinen Verlust einfach ab. Aber ich hätte jemanden gebraucht, der mich versteht und Verständnis für meinen Schmerz und meine Trauer hat, kein kaltes medizinisches Etikett.«
Sarah nahm die Tabletten zwei Wochen lang, und ihr Zustand verschlechterte sich; sie wurde auch noch erregt und fahrig und dachte daran, sich umzubringen, um ihr Leiden zu beenden und wieder mit Bob vereint zu sein. Der Arzt behauptete fälschlicherweise, ihre Todessehnsucht könne keine Nebenwirkung des Medikaments sein. »Er sagte, meine Selbstmordgedanken seien rein psychologisch und würden aufhören, wenn ich die Tabletten noch mindestens dreißig Tage nähme. Ich setzte sie sofort ab. Meine Selbstmordideen hörten auf, aber die Trauer und die Sehnsucht nach meinem Sohn blieben natürlich.«
Sarah musste selbst herausfinden, was sie brauchte, um weiterzuleben. »Ich ging in Therapie, ich meldete mich zu einer Trauergruppe an, und ich suchte Trost im Glauben und in der Kirche, ich machte Yoga und stürzte mich in körperliche Aktivität, in meine Arbeit und den Dienst an meiner Gemeinde. Ich habe einen Enkel – Bobs Sohn –, und ich bin überzeugt, dass nicht zuletzt Jason mir das Leben gerettet hat – einfach nur damit, dass er mich lieb hat und mich braucht. Ich lebe jeden Tag mit der Trauer um meinen Sohn, und daran wird sich für den Rest meines Lebens auch nichts mehr ändern, aber ich spüre endlich wieder, dass ich lebe, und jetzt, zwei Jahre später, kann ich auch wieder Freude empfinden und lachen.«
Myras Geschichte: Psychopharmaka machen alles noch schlimmer
Myra, eine Dokumentarfilmerin, wurde zu einem mehrtägigen Künstlerworkshop eingeladen, wo sie die Schriftstellerin Jane kennenlernte. Sie kamen miteinander ins Gespräch, Thema war Janes Zwangsstörung, und Myra fürchtete auf einmal, sie könnte dasselbe Problem haben. »Ich war wegen meiner Depression bei einer erfahrenen Psychotherapeutin in Behandlung und hatte nie Medikamente genommen. Aber bei Janes Schilderung horchte ich auf. Das war ja ich! Als Vierjährige hatte ich nur einschlafen können, wenn ich mich zu Musik in den Schlaf wiegte, und diese Angewohnheit hatte sich zu einer Art Zwang erweitert, der mich überfiel, wann immer ich den Abgabetermin für eine Arbeit, einen neuen Freund oder eine Aufgabe vor mir hatte, die mir Angst machte. Und dass ich die ganze Zeit über diesen bescheuerten Freund von mir nachdachte, kam mir sowieso zwanghaft vor. Ich war sicher, dass ich eine Zwangsstörung hatte.«
Myra vereinbarte einen Termin bei Janes Psychiater, der sich als Spezialist für Zwangsstörungen sah und zahlreiche seiner PatientInnen als zwangsgestört (fehl)diagnostizierte.
Bald begannen sich auch bei Myra die Diagnosen, Medikamente und Nebenwirkungen zu einem heillosen Durcheinander zu türmen.
Dr. Z. bestätigte überzeugt, Myra habe in der Tat eine Zwangsstörung und weise darüber hinaus womöglich auch Züge einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auf. Er verschrieb ein Antidepressivum, das zwar ihre Depression linderte, aber sie auch nervös, reizbar und hyperaktiv machte. Um diese Nebenwirkungen auszugleichen, verschrieb Dr. Z. ein Neuroleptikum, das sie beruhigte, allerdings
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