Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
erst gehen, wenn ich sie absetze? Mein Leben wurde zunehmend chaotisch und unproduktiv. Ich hatte überhaupt keine Hoffnung mehr.«
Nichts half, und Marias Psychiater empfahl ihr schließlich die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Zu ihrem Vater sagte er, Marias Zustand sei erblich bedingt und permanent, seine Tochter werde zeit ihres Lebens intensive ärztliche Betreuung und Medikation brauchen, und er solle »loslassen«. Ein zweiter Psychiater, der zurate gezogen wurde, bestätigte die bisherigen Diagnosen und brachte es fertig, noch drei weitere hinzuzufügen: eine Zwangsstörung, eine Borderline- und eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung. »Ich war vierundzwanzig, hatte mindestens acht Diagnosen, nahm täglich fünfzehn Tabletten und schien ein völlig hoffnungsloser Fall.«
Zum Glück weigerte sich Marias Vater, ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen tägliches Brot es ist, Lösungen für unlösbar scheinende Probleme zu finden, das Verdikt der Ärzte zu akzeptieren und brachte sie in einer auf Suchtkrankheiten spezialisierten therapeutischen Wohngemeinschaft unter. »Ich war supersicher, dass ich erstens sowieso nie von den Medikamenten loskäme und dass ich zweitens innerhalb von ein paar Monaten aus dieser WG wieder draußen wäre.«
Beide Annahmen erwiesen sich als falsch. Maria hörte mit den illegalen Drogen auf, setzte die Psychopharmaka nach und nach ab und blieb bei der Gruppe. Sie konnte kaum glauben, wie gut es ihr ging. »Nicht zu fassen, dass ich normal sein kann! Schwierige und frohe Phasen kommen und gehen, wie bei allen anderen auch. Ich habe gelernt, sie als Teil des Lebens hinzunehmen. Zwölf Jahre sind seither vergangen, ich bin jetzt siebenunddreißig und habe einen befriedigenden Beruf und einen wunderbaren Mann an meiner Seite. Oft frage ich mich, was passiert wäre, wenn mein Vater mich aufgegeben hätte, wenn er auf die Spezialisten gehört hätte. Wo wäre ich heute? Ich denke auch, was für ein ungeheures Glück ich hatte, dass mich die Kombination von Psychopharmaka und Drogen nicht umgebracht hat. Anders, als ich immer geglaubt hatte, vor allem anders, als die Psychiater immer behauptet hatten, war ich normal, sobald ich von den Drogen weg war – den illegalen und den legalen, die sie mir verschrieben hatten.«
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DAS SCHLECHTE MIT GUTEM AUFWIEGEN
Denn wo Liebe zum Menschen vorhanden ist,
da ist auch Liebe zur Heilkunst vorhanden.
Ein Arzt kann manchmal heilen,
oft lindern und immer trösten.
Hippokrates
Als dringend benötigtes Gegengewicht zu gelegentlichen Missständen und individuellem Versagen will dieses Kapitel ein paar eigentlich unspektakuläre Beispiele für die Alltagserfolge der Psychiatrie anführen.
Robertas Geschichte: Ihre Tiere hielten sie am Leben, Medikamente heilten ihre Depression
Roberta ist eine 58-jährige Englischlehrerin an der Highschool, die sich lachend als »alte Jungfer, Schrulle und Hexe im jeweils besten Sinn« bezeichnet. Aber sie steht nicht allein im Leben. Sie hat viele gute Freunde, wohnt immer noch und gern in dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, und lebt mit ihren geliebten Tieren zusammen – einem Schwein, drei Hunden, vier Katzen, einem Leguan, acht Hühnern und zwölf Singvögeln. Ihren Vater verlor sie, als sie acht war, ihre Mutter starb vor drei Jahren nach langer Krankheit, die viel Pflege erforderte. Roberta hatte die Zumutungen des Lebens stets mit Eleganz und ansteckendem Humor gemeistert.
Ihre psychiatrischen Probleme kamen wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als ihr Bruder den Schmuck ihrer Mutter und wertvolle Antiquitäten aus Familienbesitz verkaufte, um ein Boot zu erstehen – ohne vorher mit ihr zu reden, geschweige denn sie um Erlaubnis zu fragen, ohne Entschuldigung. Für die Beziehung zwischen Schwester und Bruder war es ein Schlag, den Roberta weder vergessen noch verzeihen konnte. Ihr Bruder war ihr bester Freund gewesen und der einzige Angehörige, den sie noch hatte. »Ich fühlte mich völlig allein – und begriff auf einmal, warum Dante den tiefsten Kreis seiner Hölle den Verrätern vorbehalten hat. Ich war wie vom Donner gerührt und trudelte abwärts in eine tiefe Depression.«
Roberta konnte nicht mehr aufhören zu weinen, sie konnte weder essen noch schlafen noch sich konzentrieren oder mit Freunden reden, geschweige denn lächeln. Morgens aufzustehen war ein Kampf, jeder Schultag eine nicht enden wollende Qual. Sie war aufgeregt und hatte eine »schreckliche
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