Northanger Abbey
ganze Zeit über stand mir das Haar zu Berge.«
»Ja«, fügte Miss Tilney hinzu, »und
ich
weiß, daß du es mir vorlesen wolltest, und als ich einmal nur fünf Minuten aus dem Zimmer war, um auf ein Billett zu antworten, warst du mit dem Buch zur Eremitenklause verschwunden, und ich durfte warten, bis du damit fertig warst.«
»Danke, Eleanor – eine höchst ehrenvolle Zeugenaussage. Da sehen Sie, Miss Morland, wie sehr mir Ihr Verdacht unrecht tut. Vor Ihnen steht ein Mann, der in seiner Gier weiterzulesen keine fünf Minuten auf seine Schwester warten konnte. Nein, statt ihr vorzulesen, wie versprochen, habe ich sie an einer der aufregendsten Stellen auf die Folter gespannt, indem ich mit dem Buch durchgebrannt bin – einem Buch, bitte ich zu beachten, das ihr gehörte, ihr ganz allein. Es macht mich stolz, daran zurückzudenken, und ich bin sicher, daß es Sie in Ihrer guten Meinung von mir bestärkt.«
»Und ob, ich bin sehr froh, das zu hören, und von nun an werde ich mich nie mehr genieren, daß mir
Udolpho
so gut gefällt. Aber bis jetzt dachte ich wirklich, junge Männer würden Romane ganz unglaublich verachten.«
»Unglaublich, in der Tat, weil es nicht zu glauben
ist –
schließlich lesen sie kaum weniger davon als ihr Frauen. Ich selbst habe Hunderte und Aberhunderte gelesen. Denken Sie nicht, Sie wären mit all den Julias und Louisas auch nur annähernd so gut bekannt wie ich. Wenn wir ins Detail gingen und das endlose Fragespiel beginnen würden – Haben Sie dies gelesen? Haben Sie das gelesen? –, dann würde ich Sie so weit hinter mir lassen wie – was soll ich sagen? – mirfällt kein treffender Vergleich ein – so weit, wie Ihre Freundin Emily den armen Valancourt hinter sich zurückläßt, als sie mit ihrer Tante nach Italien aufbricht 19 . Bedenken Sie, wie viele Jahre ich Ihnen voraushabe. Ich bin als Student nach Oxford gekommen, da waren Sie noch ein kleines Mädchen, das daheim brav über seiner Stickerei saß!«
»So brav auch wieder nicht, leider Gottes. Aber im Ernst, finden Sie
Udolpho
nicht auch das schönste Buch der Welt?«
»Das schönste – damit meinen Sie das am gefälligsten anzusehende, vermute ich? Das hängt vom Einband ab.«
»Henry«, sagte Miss Tilney, »das ist sehr frech von dir. Miss Morland, er springt mit Ihnen genauso um wie mit seiner Schwester. Ständig hält er mir vor, ich würde schlampig mit der Sprache umgehen, und jetzt nimmt er sich bei Ihnen das gleiche heraus. Es paßt ihm nicht, wie Sie das Wort ›schön‹ gebraucht haben, und Sie sollten es tunlichst so rasch wie möglich zurücknehmen, sonst peinigt er uns den ganzen restlichen Weg mit Johnson und Blair 20 .«
»Ich wollte nichts Falsches sagen«, rief Catherine, »wirklich nicht; aber es
ist
ein schönes Buch, warum darf ich es dann nicht so nennen?«
»Wie wahr«, erwiderte Henry, »und heute ist ein schöner Tag, und wir machen einen schönen Spaziergang, und ihr beide seid zwei schöne junge Damen. Ja, wirklich, es ist ein wunderschönes Wort, es paßt auf alles. Zwar hat es ursprünglich einmal höchstes Lob bedeutet, es war ein Superlativ, der äußerliche oder innerliche Vollendung zu bezeichnen pflegte. Aber heutzutage wird jedwede Empfehlung, die man zu jedwedem Ding aussprechen kann, durch dieses eine Wort ausgedrückt.«
»Während es doch eigentlich«, fiel seine Schwester ein, »einzig und allein auf dich angewendet werden dürfte, der du ohnehin ohne Empfehlung auskommst. Das ist mir eine schöne Bewertung! Kommen Sie, Miss Morland, soll er nach Belieben darüber nachbrüten, wie sehr unser Sprachgebrauchzu wünschen übrigläßt, und wir preisen solange
Udolpho
mit den Worten, die uns am passendsten scheinen. Es ist ein hochinteressantes Werk. Lesen Sie gern solche Bücher?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, sind das die einzigen, die ich gern lese.«
»Tatsächlich?«
»Ich meine, Gedichte und Theaterstücke und dergleichen kann ich schon auch lesen, und hier und da auch einen Reisebericht. Aber Geschichte, richtige tiefernste Geschichte, damit kann ich nichts anfangen. Sie etwa?«
»Doch, ich schon.«
»Ach, wenn ich das nur auch könnte. Ich lese manchmal in Geschichtsbüchern, weil ich muß, aber alles, was darin steht, ärgert mich entweder, oder es langweilt mich. Die Fehden von Päpsten oder Königen, und dazu Kriege oder Seuchen auf jeder Seite, die Männer alle zu nichts zu gebrauchen, und fast keine Frauen dabei – das ist furchtbar öde; und trotzdem
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