Northanger Abbey
wundere ich mich oft, daß es so fade ist, denn vieles daran muß doch erfunden sein. Die Reden, die den Helden in den Mund gelegt werden, ihre Gedanken und Pläne – das meiste davon muß ja ausgedacht sein, und das Ausgedachte ist das, was mir bei anderen Büchern am besten gefällt.«
»Sie finden also«, sagte Miss Tilney, »daß die Geschichtsschreiber ihre Erfindungskraft nicht glücklich einsetzen. Daß sie Phantasie aufbieten, ohne Interesse zu wecken. Nein, ich mag Chroniken – und lasse mir gern das Unwahre neben dem Wahren eingehen. Die wesentlichen Fakten beziehen sie aus früheren Geschichtswerken und Überlieferungen, die im Zweifel gerade so verläßlich oder unverläßlich sind wie alles, was man nicht tatsächlich mit eigenen Augen beobachtet; und was die kleinen Ausschmückungen angeht, die Sie meinen, nun, das sind eben Ausschmückungen, und als solche gefallen sie mir. Wenn eine Rede gut aufgebaut ist, lese ich sie mit Vergnügen, ganz gleich, aus wessen Feder sie stammt – und vermutlich mit noch größerem Vergnügen, wenn sie vonMr. Hume oder Mr. Robertson 21 ist, als wenn es die verbürgten Worte von Caratactus oder Agricola oder Alfred dem Großen sind.«
»Da mögen Sie also Geschichte! – genau wie Mr. Allen und mein Vater; und zwei meiner Brüder interessieren sich auch dafür. So viele Beispiele in meinem kleinen Freundeskreis, das muß etwas zu bedeuten haben. Dann muß ich die Geschichtsschreiber nicht länger bemitleiden. Wenn manche Leute ihre Bücher gern lesen, dann ist es ja gut – denn so mühselig dicke Bände vollschreiben, von denen ich immer dachte, niemand würde sie je freiwillig aufschlagen – sich abplagen, nur um kleine Knaben und Mädchen zu quälen, das schien mir immer ein hartes Los; und auch wenn ich weiß, daß es alles richtig und notwendig ist, habe ich oft schon gedacht, welcher Mut doch dazugehören muß, sich eigens zu diesem Zweck hinzusetzen.«
»Daß kleine Knaben und Mädchen gequält werden«, sagte Henry, »wird niemand abstreiten, der im entferntesten mit der Menschheit in ihrer zivilisierteren Form vertraut ist; aber zur Ehrenrettung unserer namhafteren Historiker muß ich doch anmerken, daß sie zu Recht gekränkt sein dürften, wenn ihnen kein höheres Ziel zugebilligt wird als dies, denn ihre Methodik wie auch ihr Stil befähigten sie durchaus, noch Leser mit dem geschultesten Verstand und in reifstem Lebensalter zu quälen. Ich gebrauche das Wort ›quälen‹ statt ›unterweisen‹, wie ich es mir von Ihnen abgeschaut habe, da ich wohl annehmen darf, daß die beiden neuerdings als gleichbedeutend gelten.«
»Sie finden mich töricht, weil ich vom Unterricht als einer Quälerei spreche, aber wenn Sie so oft zugehört hätten wie ich, wie arme kleine Kinder erst das ABC und dann das Buchstabieren lernen – wenn Sie je miterlebt hätten, wie begriffsstutzig sie einen geschlagenen Vormittag lang sind und wie erschöpft meine arme Mutter am Schluß ist, so wie ich es daheim fast jeden einzelnen Tag miterlebe –, dann würdenSie einsehen, daß
quälen
und
unterweisen
manchmal sehr wohl das gleiche ist.«
»Sehr wahrscheinlich. Aber die Historiker können ja nichts für die Tücken des Lesenlernens, und selbst Sie, die Sie nicht übermäßig viel von zu großem, zu ernsthaftem Studieneifer zu halten scheinen, würden doch zur Not vielleicht zugeben, daß es durchaus dafürsteht, sich zwei, drei Jahre lang quälen zu lassen, wenn man danach für den Rest seines Lebens lesen kann. Bedenken Sie, wenn niemand lesen lernen müßte, hätte Mrs. Radcliffe vergebens geschrieben – oder möglicherweise überhaupt nicht.«
Catherine stimmte zu – und ein überschwengliches Loblied ihrerseits auf die Verdienste genannter Dame beschloß das Thema. – Die Tilneys waren schon bald mitten in einem nächsten, bei dem sie nicht mitreden konnte. Sie sahen die Landschaft durch die Augen des versierten Zeichners und befanden über ihre Eignung, sich in Bilder umsetzen zu lassen, mit dem ganzen Eifer geschulten Kunstsinns. Hier war Catherine auf verlorenem Posten. Sie verstand nichts vom Zeichnen – nichts von Kunst: – und die Aufmerksamkeit, mit der sie lauschte, brachte ihr kaum Nutzen, denn die Ausdrücke, die die beiden verwendeten, sagten ihr so gut wie nichts. Das wenige, das sie verstand, schien ihr jedoch die sehr dürftigen Vorstellungen zu untergraben, die sie sich bisher von der Sache gemacht hatte. So hatte man den besten Blick ganz offenbar
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