Nosferas
das nicht. Ich finde dagegen ihre Art, müßig in die Nacht hineinzuleben, einfach nur langweilig!«
»Du bist sehr weise«, sagte Luciano. Er kramte ein Opernglas hervor und reichte es Alisa.
Sie nahm es und dankte. »Obwohl meine Augen durchaus scharf genug sind, um die Vorgänge auf der Bühne gut ohne Opernglas zu erkennen.«
»Darum geht es nicht«, belehrte sie Luciano. »Es gehört einfach dazu, dass man die Darsteller durch das Glas betrachtet und in der Pause darüber spricht, was sie geboten haben. Wir müssen uns also noch merken, wer heute Graf Almaviva singt, Rosine, Marzelline und Dr. Bartolo und natürlich den Figaro!«
»Ich wusste gar nicht, dass ein Opernabend so kompliziert ist«, erwiderte Alisa mit einem gespielten Seufzer und zwinkerte Luciano zu. Sie richtete ihr Glas auf die Kuppel über dem Saal und betrachtete das Gemälde, das sich über dem Zuschauerraum wölbte und vielleicht das einzig wirklich Prächtige am neuen Opernhaus war. Dann wurden die Lichter im Zuschauerraum gelöscht und nach und nach verebbte das Geschnatter in den Rängen und im Parkett. Der Vorhang erstrahlte im Licht der Gaslampen. Dann rafften ihn unsichtbare Seile in die Höhe und gaben den Blick auf die Bühne frei.
Latona ließ das Opernglas sinken. »Onkel, dort drüben in der Loge sitzen Vampire!« Sie reichte das Glas an Carmelo weiter, der lange in die Ränge gegenüber blickte.
»Ja, du hast recht, meine Liebe, und nicht nur in dieser Loge. Hast du die seltsamen Gestalten dort drüben gesehen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie von hier sind.«
Latona strich sich das lange zartgelbe Kleid mit den rostroten Schleifen glatt, ehe sie wieder zu dem Opernglas griff, das ihr Onkel ihr hinhielt. Es war, als wollte sie Zeit gewinnen. Wofür? Ihr Herzschlag beschleunigte sich, doch sie versuchte, vor sich selbst nicht zuzugeben, dass sie nur nach diesem einen blauen Augenpaar Ausschau hielt und nach dem blassen Gesicht mit den Lippen, die sie geküsst hatten. Erst zu Hause, als sie ihren Hals genau untersucht hatte, war die Frage in ihr aufgestiegen, warum er sie geküsst hatte, aber nicht gebissen. Vampire lebten vom Blut ihrer Opfer. Sie waren böse Wesen, die keine Rücksicht und kein Mitleid kannten - keines der Gefühle, die nur den Menschen zu eigen waren. Oder etwa doch nicht? Hatte ihr Onkel ihr nicht alles über diese Wesen erzählt? Oder wusste auch er es nicht besser?
Die Stimme Carmelos klang wie von fern. »Es ist doch sehr ungewöhnlich, wie viele von ihnen heute hier versammelt sind. Ich finde keine Erklärung dafür. Zumindest keine, die mich nicht sehr beunruhigen würde«, fügte er leise hinzu. Latona antwortete nicht. Sie hielt den Blick weiter durch das Opernglas gerichtet.
Da sah sie ihn. Ihr Herz machte einen Sprung, und sie dachte, sie könne nicht mehr atmen. Mit drei anderen Vampiren, die ihm ähnlich sahen, aber einige Jahre jünger sein mussten, saß er aufrecht hinter der Brüstung. Seine grobe Jacke hatte er gegen einen eleganten Frack getauscht. Im Hintergrund konnte sie weitere Gestalten erahnen, doch die interessierten sie nicht. Sie starrte nur unverwandt auf Malcolm und versuchte, gleichmäßig ein- und auszuatmen.
Obwohl die Handlung auf der Bühne ihrem ersten Höhepunkt entgegenstrebte, wandte sich Malcolm plötzlich vom Geschehen ab und sah direkt zu ihrer Loge herüber. Latona fuhr zurück und presste den Rücken gegen die Stuhllehne. Das Opernglas entglitt ihren Händen und fiel ihr in den Schoß. Er hatte sie bemerkt! Ja, er schaute ihr genau in die Augen. Selbst in diesem trüben Licht und in dieser Entfernung war es ihr, als könne sie das tiefe Blau in ihnen erkennen.
Carmelo beugte sich zu ihr herüber und befreite das Opernglas aus ihren Schleifen und Rüschen. »Nun, meine Liebe? Was ergibt deine Volkszählung?«, fragte er mit mildem Spott in der Stimme.
»Was?« Sie konnte nur mit Mühe den Kopf wenden, um ihren Onkel anzusehen.
»Wie viele Vampire hast du gezählt? Ihre Zahl scheint dich zu erschrecken. Du bist ganz bleich geworden!« Er tätschelte ihre Finger, die so eiskalt waren wie Malcolms Hände, Wangen und Lippen.
»Es läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken!«
»Ja, es sind verdammt viele!«
Latona nahm sich vor, nicht mehr an die blauen Augen zu denken, und versuchte sich an einem Lächeln. »Onkel, du fluchst? Das wirst du hoffentlich in deiner Beichte erwähnen!«
»Aber sicher! Ich möchte doch nicht noch mehr Sünden auf
Weitere Kostenlose Bücher