Nosferas
ablenken. Eine Gestalt erregte ihr Interesse. Es war ein unscheinbarer Vampir in mittlerem Alter, der ihr sicher nicht aufgefallen wäre, hätte er die Halle ganz normal betreten. Aber die Art, wie er erst um einen Pfeiler lugte und sich dann an der Wand entlangdrückte, war merkwüdig. Nun fiel Alisa auch auf, dass seine Kleider an den Knien und Ärmeln verschmutzt und zerrissen waren. Er strahlte etwas Gehetztes aus, so wie sein Blick durch den Saal huschte. Als Conte Claudio sich von seinen Gästen abwandte, eilte er zu ihm. Alisa trat unauffällig ein wenig näher und spitzte die Ohren.
»Er ist verschwunden«, keuchte der Neuankömmling. »Ich habe ihn vergangene Nacht begleitet, wie er es wollte, und dann hat er mich zu einer Besorgung geschickt. Als ich wiederkam, war er fort. Ich habe ihn bis zum Sonnenaufgang gesucht, konnte ihn aber nicht finden. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich den Tag über in einem Keller zu verstecken. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist wie vom Erdboden verschluckt!«
Conte Claudio schien ihm gar nicht recht zuzuhören oder die Geschichte interessierte ihn nicht. »Von wem redest du?«, fragte er nachlässig und sah dabei zu einer anderen Gruppe hinüber, die gerade den Saal betrat.
»Von Erado, von Eurem Oheim Erado.«
Nun wandte sich Conte Claudio dem Sprecher zu. Ein seltsamer Funke glomm in seinen braunen Augen. »Erado ist verschwunden?« Der andere nickte. Alisa spürte seine Verzweiflung.
»Und es gibt keine Hoffnung mehr?«, bohrte Conte Claudio nach.
Der Unscheinbare hob die Schultern. »Ich kann mich gleich noch einmal auf den Weg machen. Ich wollte Euch nur Bescheid geben. Soll ich eine Suchmannschaft zusammenstellen? Die meisten Unreinen sind mit den Sänften unterwegs. Sie haben die Altehrwürdigen in die Oper getragen.«
Conte Claudio zögerte. Sein Blick wanderte zu dem alten Giuseppe, der kerzengerade in seinem Stuhl saß. Konnte er aus dieser Entfernung das Gespräch mit anhören? Alisa fühlte, wie jemand an ihrem Ärmel zog.
»Nun komm schon«, schimpfte ihr jüngerer Bruder. »Es gibt endlich Blut. Ich bin so ausgehungert, dass ich mich sogar auf Ratten stürzen würde!« Nun hatte sie die Entscheidung des Conte verpasst! Der unbekannte Vampir verneigte sich bereits und huschte davon.
»Tammo, du bist wirklich das Lästigste, was diese Erde jemals hervorgebracht hat«, fauchte seine Schwester.
Beleidigt wandte sich Tammo ab und lief aus der Halle. Alisa folgte ihm so schnell, wie es ihr Kleid zuließ. Sie würde es sobald wie möglich gegen etwas Praktischeres tauschen! Jedenfalls hatte sie bereits viel Stoff zum Nachdenken, obwohl sie erst seit kaum mehr als einer Stunde in der Domus Aurea weilten. Das Jahr in Rom versprach noch interessanter zu werden, als sie es sich erhofft hatte!
Nach ihrem Mahl führte ein Vampir namens Lorenzo sie durch die Domus Aurea. Er war ein Vetter zweiten Grade von Conte Claudio, etwa halb so alt wie dieser und auch nur halb so beleibt. Dennoch schritt er nur langsam voran mit dem gleichen watschelnden Gang wie das Familienoberhaupt. Er sprach vom römischen Kaiser Nero, unter dessen Herrschaft im Jahr 64 nach Christi Geburt einige Wohnviertel Roms bei einem Brand zerstört worden waren. Dieses Gelände mit den Hügeln des Palatino, des Celio und des Oppius einschließlich des von ihnen umschlossenen Tales wählte der Kaiser, um die größte Palastanlage aller Zeiten zu erbauen - seiner Person und seiner Macht angemessen! Ein Paradies mit Pavillons und Parklandschaften, einem künstlichen Meer und Gärten voller exotischer Tiere.
»Neros Meer erstreckte sich dort, wo heute das Kolosseum steht. Die Domus Aurea war nur der Ostteil des Palastes und nicht als Wohnstätte für den Kaiser und seine Gemahlin gedacht«, erklärte Lorenzo, während er sie von einem steinernen Raum in den anderen führte. »Hierher lud er seine wichtigen Gäste zu großen Gelagen mit Musik und Tanz und vielen Überraschungen - zum Beispiel von der Decke herabregnende Rosenblüten.« Lorenzo sprach von den reichen Wand- und Deckenmalereien, Szenen aus der antiken Sagenwelt und fantastischen Landschaften, von den Statuen und unglaublichen Wasserspielen, von drehbaren Decken und künstlichen Himmeln.
Alisa merkte schnell, dass der Glanz der alten Kaiserzeit heute nur noch in den Sälen und Zimmern zu erahnen war, die der Familie wichtig erschienen: vor allem im Ostflügel, in den Räumen um den achteckigen Saal und den Hof herum,
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