Nosferas
in denen offensichtlich die Altehrwürdigen wohnten. Auch der Saal mit der goldenen Decke war prächtig anzusehen. Alisa vermutete, dass Conte Claudio und einige angesehene Familienmitglieder sich auch ihre Grüfte kostspielig hatten ausstatten lassen. Diese Räume durften sie allerdings nicht besichtigen.
Die Schlafräume der jungen Vampire und vor allem die der Servienten im Westflügel waren dagegen kahl und feucht. Zwar konnte man an den Wänden noch immer Reste der einstigen Bemalung sehen, doch hier hatte sich niemand die Mühe gemacht, die Spuren von fast zweitausend Jahren zu beseitigen. Das herabrinnende Wasser hatte weiße Kalkspuren hinterlassen und an vielen Stellen war der Putz von Decken und Wänden gebröckelt. Nur den geschichteten Ziegelsteinen schien die Zeit wenig anhaben zu können. Und während die Repräsentationsräume im Ostflügel in verschwenderischem Lichterglanz erstrahlten, kamen sie hier nur selten an brennenden Lampen vorbei. Aber schließlich brauchten sie alle kein Licht, um im Dunkeln ihren Weg zu finden. Alisa versuchte, sich wieder auf Lorenzos Stimme zu konzentrieren.
»Nach Neros Tod war seinen Nachfolgern sehr daran gelegen, jede Erinnerung an ihn zu tilgen. Sie legten das Meer trocken und bauten dort für das Volk das erste steinerne Amphitheater, das Kolosseum. Den Palast rissen sie nieder.«
»Bis auf die Domus Aurea. Warum haben sie die stehen lassen?«, wollte Sören wissen.
Ihr Führer lächelte. »Ihr spürt natürlich, dass wir hier unter der Erde sind, genauer gesagt im Oppiushügel. Daher ist es hier kühl und feucht. Das alles verdanken wir Kaiser Trajan. Er wollte das Goldene Haus als Fundament für eine neue Therme nutzen. Daher blieb es stehen. Trajan ließ lange Galerien einbauen, um die Aufbauten auf dem Hügel zu stützen, die offenen Arkaden vermauern und die großen Höfe zuschütten. In ihrem Grab aus Erde und Stein gerieten die Goldenen Hallen in Vergessenheit. Selbst als die Therme längst schon verfallen war, ahnte niemand, was im Inneren dieses künstlichen Hügels schlummerte. Ein idealer Ort für unsere Familie! Nach und nach haben wir die Räume unseren Bedürfnissen und Vorlieben angepasst.«
Der Morgen nahte bereits, als Lorenzo seine Führung beendete. Einige der römischen Clanmitglieder kehrten gerade von ihren nächtlichen Streifzügen zurück. Alte und junge Vampire kletterten aus ihren Sänften und begaben sich trägen Schrittes zu ihren Schlafstätten. Ihre bunten Gewänder ließen die grau gekleideten Servienten, die die Sänften getragen hatten, wie umherhuschende Ratten wirken.
Als sich der Hof wieder geleert hatte, begleitete Lorenzo die Gäste zu einer Reihe steinerner Kammern auf der Südseite des Westflügels.
»Diesen Raum nennen wir den Saal der Käuzchen«, erklärte er und deutete auf die Gemälde an der Decke. »Hier oder in den Galerien, die den alten Hofgarten durchlaufen, können sich die Schüler aufhalten, wenn kein Unterricht stattfindet. In den Kammern rechts schlafen die Jungen, in den Kammern links die Mädchen. Eure Diener werden zusammen mit unseren Unreinen untergebracht. Legt euch nun in eure Särge. Wir beginnen heute Abend.«
Marieke, die Dame Elina zusammen mit Hindrik als Begleitung der jungen Vampire ausgewählt hatte, folgte Alisa in den nächsten Raum. Vier schwere Sarkophage standen an der einen Wand. An der anderen fand Alisa ihre alte Schlafkiste und den Behälter mit ihren Habseligkeiten.
»Müssen wir in diesen Dingern schlafen?«, fragte sie und versuchte, den Deckel zu verschieben, doch er rührte sich nicht von der Stelle. »Ich möchte lieber meine Kiste.«
Sie sah von Marieke zu einem Mädchen mit schwarzem Haar und einer - im Gegensatz zu Alisa - sehr weiblichen Figur, das nun mit ausgestreckter Hand auf sie zukam.
»Sei gegrüßt«, sagte sie in der alten Vampirsprache. »Du bist aus dem neuen Deutschen Reich, nicht wahr? Ich spreche kein Deutsch. Es ist aber auch eine zu seltsame Sprache. Wie kann man nur solche Laute über die Lippen bringen? Ich heiße übrigens Chiara.«
»Ich grüße dich auch. Du bist eine Nosferas, das sieht man. Mein Name ist Alisa und das ist Marieke.«
Sie schüttelten sich die Hände. Als Marieke ebenfalls auf sie zutrat, wich Chiara ein Stück zurück und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Ist sie nicht ein Schatten?«
Alisa starrte das Mädchen verständnislos an. »Schatten?«
»Nun ja, eine Unreine, ein Dienstbote, der dir immer folgen und
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