Nosferas
sie noch in ihrem Sarg lag. Doch es war Malcolm, der in die Schlafkammer geschlendert kam. Er blieb kurz stehen, dann ging er zu ihr herüber, bückte sich und half ihr, die Bücher aufzuheben.
»Interessante Werke«, sagte er, als sein Blick über die Buchrücken huschte. »William Blake, die Brontës, Charles Dickens, William Shakespeare und oh - Lord Byron! Das würde ihm gefallen! Sind das deine Bücher?«
Alisa schüttelte den Kopf. »Nein, sie gehören Ivy. Vielleicht sollte ich sie lieber erst fragen, bevor ich mir eines leihe.« Sie ging zu ihrem Sarg zurück, zögerte dann aber und lehnte sich mit auf dem Rücken verschränkten Armen gegen die glatte Außenwand.
»Solltest du nicht besser in deinem Sarg liegen?«, sagte Malcolm und lächelte.
»Solltest du nicht besser im Unterricht sein?«, fragte Alisa zurück.
Der englische Vampir zuckte mit den Schultern. »Ich werde mir eine Ausrede einfallen lassen müssen.«
Alisa seufzte. »Wie konnte mir dieses Missgeschick nur passieren! Und jetzt muss ich auch noch die ganze Nacht hierbleiben!« Das Gefühl der Peinlichkeit schmerzte mehr als die Erinnerung an die Qual, die sie empfunden hatte, und so wehrte sie lässig ab, als Malcolm sich erkundigte, wie es sich angefühlt hatte, als ihr das Amulett verloren gegangen war.
»Ich konnte den Schmerz trotz des schützenden Steines fühlen«, sagte er. »Doch viel schlimmer fand ich die nebligen Gestalten, die versuchten, meinen Geist zu trüben. Ich wäre am liebsten davongelaufen!«
Es schien ihm nicht einmal schwer zu fallen, das vor ihr zuzugeben. Vermutlich hatte er dieses kindische Gehabe einfach schon hinter sich gelassen. Vielleicht fühlte sich Alisa gerade deshalb in seiner Gegenwart ein wenig befangen. Sie schwiegen einige Augenblicke. Alisas Blick wanderte zu der Tasche seiner Tweedjacke, die er über Knickerbockern aus dem gleichen Stoff trug. Etwas Rotes lugte daraus hervor.
»Was ist das?«, fragte sie, um die Spannung des Schweigens zu durchbrechen.
Malcolm zögerte einen Moment, dann zog er eine rote Samtmaske hervor und reichte sie ihr.
»Was ist denn das? Ich meine, wozu brauchst du es?«, fragte Alisa überrascht und drehte die Maske in den Händen. »Tragt ihr so etwas in London?«
»Wenn wir auf die Jagd gehen?« Malcolm schmunzelte. »Das wäre ein seltsamer Anblick. Nein, natürlich nicht. Ich habe sie - äh - hier gefunden.«
Alisa schnupperte an dem weichen roten Stoff. »Drüben im Ostflügel, nicht wahr?«
Malcolm sah sie überrascht an. »Nein. Wie kommst du darauf?«
»Ich kann deinen Geruch sehr stark wahrnehmen und dann noch den süßen Duft eines jungen Menschen. Doch da ist noch mehr, frühere Gerüche, andere Menschen und dann ein Hauch von Alter und Verwesung, wie ich ihn aus dem Ostflügel zu kennen glaube.«
Malcolm nahm ihr die Maske wieder aus der Hand und roch selbst daran. Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. »Du hast eine sehr gute Nase und eine feine Witterung.«
Sie musterte ihn neugierig. »Aus deiner Reaktion schließe ich, dass die Maske nicht von dort stammt. Etwa gar nicht aus der Domus Aurea?«
Wieder zögerte er, doch dann grinste er. »Mädchen sind doch alle gleich neugierig, ob Mensch oder Vampir.« Alisa wollte dies von sich weisen, doch sie war zu begierig darauf, seine Antwort zu hören, daher schwieg sie und sah ihn nur auffordernd an.
»Nun gut, ich denke, dir kann ich es sagen.« Und so erzählte er von seinem nächtlichen Ausflug und dem seltsamen Mädchen, das die Maske verloren hatte.
»Wie spannend!«, rief Alisa. Ihre Augen blitzten. »Ein Geheimnis! Was meinst du? Normal ist so ein Verhalten doch nicht!«
Malcolm nickte. »Ja, und es geht mir nicht aus dem Kopf. Ich wüsste zu gern, was es mit ihr und dieser Verkleidung auf sich hat. Ich bin seitdem noch zwei Mal an der Stelle gewesen, aber sie ist natürlich nicht wieder aufgetaucht.« Er hob die Hände. »Ich denke, wir werden es nie erfahren.«
»Ja leider.« Alisa nickte. »So bleiben uns nur Vermutungen. Eine geheime Botschafterin für einen hohen Herrn? Eine Anhängerin einer verbotenen Religion, der vom Vatikan blutige Verfolgung droht?«
Malcolm lachte. »Du hast eine blühende Fantasie. Nein, dann gehört sie schon eher zu einem der politischen Geheimbünde, die es in Italien ja zuhauf geben soll.«
»Wir werden es nie erfahren«, wiederholte Alisa.
Sie lächelten beide und sahen einander an. Das helle Blau ihrer Augen versank in dem dunklen Blau der seinen.
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