Nosferatu 2055
hatte. Es war so lange her, seit ihn jemand in der Innenstadt gesehen oder von ihm gehört hatte, daß Serrin ganz einfach angenommen hatte, sein Freund sei tot. In diesem Augenblick erkannte er, daß er es absichtlich vermieden hatte, etwas über Toms Schicksal herauszufinden, da der Gedanke an seinen Tod einfach zu schmerzlich gewesen war.
»Er hat sich verändert«, sagte der Ork. »Ich weiß nicht, ob er noch Muskeljobs annimmt. Wandelt neuerdings auf den Pfaden Bärs. Und er ist trocken. Wohnt immer noch in Redmond, aber ich hörte, er fährt jetzt die grüne Schiene und rettet Leute vor den Apparatschiks. Drek, du hast ihn lange nicht mehr gesehen, oder? Du weißt das alles noch gar nicht.«
»Ich hatte keine Ahnung«, sagte der Elf verblüfft.
»Er redet manchmal von dir«, sagte der Ork zögernd. »Schätze, du hast dich lange genug um ihn gekümmert, daß er sich schließlich selbst retten konnte. Sagt er jedenfalls. Du könntest schlimmer fahren, Chummer. Du hast einen Freund da draußen, was bedeutet, du hast nicht so viele Sorgen, wie du glaubst.«
Damit erlosch der Schirm. Serrin rief sofort den Empfang an und bestellte für Punkt neun Uhr ein Taxi. Das gab ihm die Zeit für das Frühstück, die erste Zigarette des Tages und die Möglichkeit, sich zu überlegen, was, zum Teufel, er Tom nach all den Jahren sagen würde.
In dem Gefühl, daß sie ihr Glück noch nicht verlassen hatte, zog sich Kristen in die Dunkelheit auf ihrer Straßenseite zurück, und ihre Gedanken überschlugen sich, während sie die beiden reglosen Gestalten gegen über beobachtete. Die Männer hatten ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen, aber die Schatten verbargen sie noch besser. Es war offensichtlich, daß sie nichts Gutes im Schilde führten, aber Kristen hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie davon profitieren mochte. Kam ihr Glück nicht immer in einer Strähne?
Minuten vergingen, in denen nur wenige Passanten dem Regen trotzten und die Szenerie belebten, und sie fragte sich schon, was, zum Teufel, sie hier eigentlich tat. Ihr schwirrte der Kopf unter der Wirkung der weichen Droge, und ab und zu mußte sie sich bewußt zusammenreißen, um einen klaren Blick zu behalten.
»Wieviel, Schätzchen?« lechzte eine ölige Stimme hinter ihr. »Hast du auch Extras drauf?«
Sie drehte sich zu dem Mann um, dessen weißes Pickelgesicht im Licht der Läden zu ihrer Linken merkwürdig grell wirkte, obwohl die Umrisse der abstoßenden Visage im Schatten lagen, der außerdem die Hand verbarg, die sich um ihre Taille legen wollte.
»Verpiß dich, oder ich mach Seifenblasen aus dir, du hirntoter Dreksack«, schleuderte sie ihm entgegen, woraufhin er sich eiligst in Richtung eines von Carrags Pornotorien verzog. Auf dem Weg zum Indra mußte Kristen dem Rotlichtbezirk Kapstadts näher gekommen sein, als dies in ihrer Absicht gelegen hatte. Aber jetzt konnte das Indra warten. Irgendwas würde hier direkt vor ihr über die Bühne gehen. Das schrien ihr alle ihre Instinkte zu. Die Luft war fast unerträglich still, ohrenbetäubend leise. Und selbst an einem so regnerischen Abend hätten eigentlich mehr Leute auf der Straße sein müssen. Es war fast so, als hätte irgendein Trideoregisseur Anweisung gegeben, die Straßen zu räumen.
Dann geschah es. Als zwei Männer um die Ecke der Chepstow Street bogen, der eine ein Stück vor dem anderen, fiel der hintere plötzlich lautlos zu Boden, und nur ein unterdrücktes Zischen von irgendwo oberhalb und hinter ihm verriet den Standort des Attentäters.
Die anderen beiden Männer, diejenigen, die sie beobachtet hatte, bewegten sich in perfektem Gleichschritt. Der eine rammte dem vorderen Mann die Faust in den Magen, während der zweite ihm eine Faust unter das Kinn pflanzte. Der Mann knickte leicht ein, um gleich darauf nach hinten geschleudert zu werden. Er hatte nicht die geringste Chance. Mit absolut präzisem Timing schnurrte eine Limousine den Ocean View entlang und bremste; die hintere Tür öffnete sich, die beiden Männer luden den reglosen Körper ein und stiegen dann ihrerseits ein. Sie wußten, was sie taten. Die Limousine gab augenblicklich wieder Gas und bog auf die High Street ein, zweifellos unterwegs zum Strand.
Es war perfekt, wie eine Szene aus einem ihrer Lieblingsvideos. Sie fühlte sich wie ein Schauspieler in einem Film, als Kristen über die praktisch menschenleere Straße ging und die Leiche betrachtete, die sie zurückgelassen hatten. Sekunden später hielt
Weitere Kostenlose Bücher