Notaufnahme
mich aus dem Tiefschlaf gerissen, Blondie. Ich hab’ seine Nachricht entgegengenommen und gesagt, du würdest zurückrufen. Gestern glaubst du noch, er habe Gemma Dogen abgeschlachtet, weil sie seine Frau auf dem Gewissen hat, und heute willst du, dass er anruft. Dreh den Spieß doch um. Lass ihn doch schmoren und mach ihn eifersüchtig. Er soll ruhig denken, dass er einen Rivalen hat – den Prinzen von Wales, zum Beispiel, oder Sean Connery.«
Vergiss Drew Renaud und den ganzen privaten Kram, wenigstens für den Augenblick, ermahnte ich mich. Die Arbeit wartete.
Wir betraten eine Miniaturausgabe des großen Sitzungssaals. Um den rechteckigen Tisch standen sechs bequeme Sessel, ein Videorecorder, auf dem wir unser Band vom Tatort abspielen konnten, ein Dia-Projektor sowie ausreichend Kaffee und Mineralwasser.
»Vielleicht erzählen Sie und Alexandra mir, was Sie bis jetzt herausgefunden haben«, schlug Dogen vor, während er Platz nahm. »Wissen Sie schon, wer Gemma umgebracht hat?«
»Ich würde es lieber umgekehrt machen, Doc, wenn Sie nichts dagegen haben«, entgegnete Mike mit fester Stimme. »Es wäre für uns sehr hilfreich, wenn Sie uns zuerst ein bisschen über Gemma erzählten. Auch Dinge, die Ihnen nebensächlich erscheinen mögen. Und nachdem Sie uns ein wenig Hintergrundwissen geliefert haben, bringen wir Sie auf den neuesten Stand der Ermittlungen.«
Klingt sehr eindrucksvoll, stellte ich fest. Mike brachte es fertig, fast jeden in jeder beliebigen Situation zu bluffen, doch was er jetzt ablieferte, war einmalig, denn wir waren am heutigen Tag verwirrter und weiter von der Aufklärung des Verbrechens entfernt, als wir es damals waren, als wir zum ersten Mal mit Geoffrey Dogen telefoniert hatten.
»Einverstanden. Dann fange ich also an.«
Er rückte mit seinem Stuhl ganz dicht an den Tisch, stützte seine Ellenbogen auf und legte das Kinn in die Hände. Er begann mit Gemmas familiärem Hintergrund. Alles klang ganz normal. Gemmas Eltern waren kurz vor ihrer Geburt von Broadstairs nach London gezogen – 1939, noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Ihr Vater starb auf dem Schlachtfeld; Gemma blieb Einzelkind. Obgleich ich bezweifelt, dass Gemmas Kindheit für uns von Belang war, machte ich mir Notizen.
Geoffrey berichtete von ihrer Schulzeit; schon damals galt ihr besonderes Interesse der Biologie, und sie gewann mehrere Preise für verschiedene Experimente, die sogar in wissenschaftlichen Fachkreisen Aufmerksamkeit erregten. Einige Jahre später lernten sich Gemma und Geoffrey an der Universität kennen, wo er bereits seit mehreren Semestern studierte.
»Ich hatte sie schon mehrmals an der Uni gesehen. Man konnte sie einfach nicht übersehen; sie war damals eine sehr auffallende Erscheinung.« Sein Lächeln verriet, dass er das Bild der schönen jungen Frau, in die er sich verliebte, noch deutlich vor Augen hatte. »Aber kennen gelernt habe ich sie letztlich woanders. Auf der Tower Bridge.«
Ich warf Mike einen Blick zu, der Creaveys wachen Augen nicht entging.
»Ich war mit einer Gruppe australischer Studenten dort. Sie absolvierten ein Auslandssemester und unternahmen an den Wochenenden das übliche Besichtigungsprogramm. Wachablösung vor dem Buckingham Palace, die Kronjuwelen die Tower Bridge und das Traitor‘s Gate. Das haben Sie wahrscheinlich auch alles schon kennen gelernt.«
Ich nickte, während Mike bedauernd bemerkte, er habe bislang noch keine Gelegenheit gehabt.
»Jetzt sind Sie so nahe bei London und haben nicht einmal Zeit, wenigstens einen Teil dieser Stadt zu sehen. Können Sie nicht noch das Wochenende dranhängen?«
»Leider nein. Wir müssen gleich wieder zurück. Nachdem Sie uns weitergeholfen haben, Dr. Dogen.«
»Ja, ja, natürlich. Nun, ich hatte meinen Aussies beinahe alles gezeigt, aber sie wollten es sich nicht nehmen lassen, bis zum obersten Stockwerk der Tower Bridge hinaufzusteigen. Dreihundert Stufen – mindestens. Mir bleib nichts anderes übrig, als auch hochzuklettern. Außer uns war nur noch eine andere Person oben; ich kannte sie vom Sehen aus der Uni. Es war Gemma. Sie stand an einem der Fenster und blickte gedankenverloren auf den Fluss; die lärmende Gruppe hinter sich schien sie gar nicht zu bemerken. Ich stellte mich ihr vor, erklärte ihr, dass ich sie bereits mehrmals gesehen hatte, und erfuhr, dass sie Gemma Holborn hieß.«
Mike wurde allmählich ungeduldig; die Liebesgeschichte interessierte ihn weniger. »Warum war sie da oben? Hatte
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