Notbremse
Hocke versuchte, sich an die Skizze dieser historischen Anlage zu erinnern. Ganz am Ende, so durchzuckte es ihn, gab es das ›Tor der Irdischen Ruhe‹. Sollte dies auch für ihn symbolhafte Bedeutung haben? Irdische Ruhe? Hocke spürte sein Herz bis in den Hals pochen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Häberle hatte geduscht, sich angezogen und war auf den kleinen Balkon des Hotels gegangen, um den aufziehenden Morgen zu genießen. Vor ihm lag eine parkähnliche Anlage, aus der altehrwürdige Bäume in den heller gewordenen Himmel ragten. Die Luft hatte in der Nacht kaum abgekühlt. Bozen lag im Einflussbereich einer feucht-warmen Strömung aus dem Süden. Jenseits der Alpen, das wusste er von seinen Urlaubsreisen hierher, sorgte das angenehme mediterrane Klima für jene Behaglichkeit, die ihm im Filstal und auf der Schwäbischen Alb so sehr fehlte. Doch wehe, es zog mal ein Tiefdruckgebiet südlich an den Alpen vorbei. Dann, so hatten es ihm die Menschen in Südtirol und im nahen Tessin oftmals bestätigt, war mit einer längeren Schlechtwetterperiode zu rechnen.
Seit dem Telefonat mit dem Ulmer Kollegen drehten sich seine Gedanken um den Koffer und die seltsamen Substanzen. Er hoffte, dass der an ihn gerichtete Brief bald geöffnet wurde. Welche Botschaft mochte er enthalten? Vermutlich gab es etwas, das ihm ein Unbekannter auf diese Weise mitteilen wollte. Und dies, so war anzunehmen, sollte mit gewissem Aufsehen verbunden sein. Ansonsten hätte es doch gereicht, den Koffer an einer beliebigen Stelle zu deponieren und ihn mit einem anonymen Anruf darauf hinzuweisen. Immerhin hätte der Koffer im Bahnhof auch abhandenkommen können.
Häberle lehnte sich an das Geländer, vergewisserte sich aber zuvor, ob es seinem stattlichen Gewicht auch standhalten würde. Um ihn herum erwachten die Vögel, von der vorbeiführenden Straße drang Motorenlärm. Bozen erwachte.
Häberle nutzte die frühe Morgenstunde, um sich die Ereignisse der vergangenen beiden Tage noch mal vor Augen zu führen. Zwei Tage waren jetzt seit dem Mord im ICE und dem Entdecken des Toten in der alten Mühle vergangen. Zwei Tage, in denen sie viel erfahren und einige Verbindungen aufgedeckt hatten. Zum Beispiel, dass es zwischen den beiden Ermordeten einen Zusammenhang geben musste – zumindest waren sie mit derselben Waffe getötet worden. Und wenn stimmte, was Gracia, die junge Ärztin, behauptet hatte, dann spielte der noch immer nicht identifizierte ICE-Tote eine äußerst dubiose Rolle. Jedenfalls war es diesem Menschen gelungen, seine wahre Identität zu verbergen – mit allen Tricks, die in der Tat an einen Agenten erinnern konnten.
Dann gab es die spurlos verschwundene Sylvia Ringeltaube, die in ein Geflecht verwoben war, das eine Verbindung zu den beiden Pharmazieunternehmen in Ulm vermuten ließ. Und schließlich hatten die Telefondaten ergeben, dass zumindest eine Person im Bereich der Geislinger Steige mit der ›Donau Pharma AG‹ telefoniert hatte, nachdem dort der ICE gestoppt worden war. Horschak oder so ähnlich hieß dieser Mensch, den Linkohr und Fludium ausfindig machen wollten. Der Ermittler sog die feuchte Luft in sich auf und beobachtete einen großen Vogel, der sich gegenüber des Balkons auf den Ast eines Nadelbaums gesetzt und ein Morgengezwitscher angestimmt hatte.
Häberles Gedanken gingen erneut auf Reisen. Plötzlich musste er an den Apotheker denken, der sie auf die Spur von ›Pferdchen‹ gebracht hatte, auf Ulrike Steinmeier. Hatte der Ulmer Kollege vorhin nicht von Apothekenfläschchen gesprochen, die in dem sichergestellten Koffer gewesen waren? Im Notizbuch des unbekannten ICE-Toten hatten sie aber ohnehin jede Menge Telefonnummern von Apothekern und Ärzten gefunden.
Häberle dachte an diesen See in Kiefersfelden, an dem er sich heute Mittag umsehen wollte. Sobald es Frühstück gab, würde er das schöne Südtirol verlassen. Falls es notwendig werden würde, blieb ihm sogar noch Zeit, am Chiemsee oder diesem Simssee vorbeizuschauen, um dieser seltsamen Detektei einen Besuch abzustatten – vorausgesetzt, es handelte sich bei ihr nicht nur um eines dieser dubiosen Internetunternehmen. Sollten jedoch Linkohr und Fludium mit ihren Vermutungen recht behalten, könnte sich daraus eine neue Spur entwickeln. Die Frage war nur: Wie passte dies alles zusammen? Eine Vermutung hatte er zwar – aber um sie beweisen zu können, fehlten noch viele Mosaiksteinchen. Dem Chefermittler schien es, als liege ein
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