Notizen aus Homs (German Edition)
operiert.
Während ich mir die Verwundeten ansehe, streiten sich Raed und Abu Bari weiter auf dem Flur. Schließlich kommt Abu Bari zu mir und zeigt mir das Mädchen, das gleich neben mir unter einer Decke versteckt war. Es trägt einen schwarzen Schleier und ein langes blaues Kleid. Raed und ich erreichen, dass wir allein mit ihr sprechen können, in der Apotheke, ohne Zeugen, die sie beeinflussen könnten.
Der Bericht dieser Frau erwies sich als vollkommen zusammenhanglos, was zweifellos erklärt, warum die anderen Journalisten, die ihre Zeugenaussage aufgenommen haben, diese nicht verwenden konnten. Ihr stark dialektal gefärbtes Arabisch erschwerte das Gespräch zusätzlich. Die Geschichte hat sicherlich einen wahren Kern, denn mehrere andere Personen haben uns ebenfalls davon erzählt und haben den Namen des verantwortlichen mukhabarat -Unteroffiziers bestätigt, eines gewissen Abu Ali Munzir. Die Frau hat uns auch die Namen der jungen, von Munzir entführten und vergewaltigten Frauen genannt; wir haben versucht, sie zu finden, aber ohne Erfolg, und ich sehe keinen Sinn darin, sie hier wiederzugeben, genauso wenig wie den Namen unserer Zeugin. Was man von ihrer Geschichte vielleicht behalten kann, die sie mit einem maliziösen kleinen Lächeln erzählt, während sie uns unter ihrem Schleier kokette, aufreizende Seitenblicke zuwirft, ist Folgendes: Sie kommt aus einem kleinen Dorf an der Straße nach Palmyra, sie ist Analphabetin, denn bei ihr zu Hause lernen die Mädchen nicht lesen. Mit fünfzehn hat sie geheiratet und ist nach Homs gezogen. Vor zwei Jahren hat sie sich scheiden lassen, daraufhin habe sie begonnen, als »Künstlerin«, wie man das nennt, zu arbeiten, in Hama und in ihrem Kaff. Von da an wird die Erzählung inkonsistent: Denunziation seitens des Ehemannes, Verhaftung, Folter, medizinische Untersuchungen und so weiter.
Im Gefängnis habe sie Munzir getroffen, einen Verantwortlichen des Gefängnisses. Nach ihrer Freilassung ist sie erst in ihr Dorf, dann zwei Monate später nach Homs zurückgekehrt. Munzir habe sie auf dem Handy angerufen. Er habe sie gebeten, als Lockvogel bei der Gefangennahme zweier junger Schwestern zu fungieren, die er gegen junge alawitische Männer austauschen wollte, die von der FSA gefangen gehalten wurden. Die Details der Entführung sind nicht besonders interessant. Das Mädchen sagt, es sei bei den Vergewaltigungen nicht dabei gewesen, aber eine Frau aus Aleppo, die alles ge sehen habe, habe es ihr erzählt.
Im ersten Raum, in der Nähe des Eingangs, sind gerade zwei Verwundete eingetroffen. Wir wollen reingehen, aber die Männer versperren uns den Weg: »Es gibt Regeln.« Mukhabarat -Reflexe? Die Paranoia ist ausgeprägt. Man setzt uns vor die Tür. »Ich will mein Foto nicht im Fernsehen sehen!«, brüllt ein junger Mann, der sich mit einem Lächeln zu uns ins Auto setzt. Um diese Verwundeten zu sehen, brauchen wir die Erlaubnis des Militärkommandanten. Die Diskussion flammt wieder auf, es ist endlos. Abu Khattab, einer der Ärzte, erklärt uns schließlich, dass es sich um gefangen genommene Soldaten handelt. »Uns tötet das Regime! Und wir pflegen unsere Gefangenen!« – »Ja, eben«, antwortet Raed, »dann zeig sie uns doch!« Unmöglich, wir brauchen die Erlaubnis des Militärrats. Als Raed Abu Khattab zuruft: »Eure Methoden sind nicht anders als die des Regimes!«, ist dieser sehr getroffen. Die Situation ist angespannt, es wird viel geschrien.
Danach bringt uns Imad in ein anderes Krankenzentrum, kleiner als das von Abu Bari, aber sauber und ordentlich, eingerichtet in einer Wohnung. Keine Ärzte, lediglich zwei Krankenpfleger. Sie haben bloß kleineres chirurgisches Material und können nur Erste Hilfe leisten. Wenn es sich um eine schwere Verletzung handelt, müssen sie den Patienten woanders hinschicken. Das Zentrum von Abu Bari ist auf demselben Niveau. Jetzt sind sie dabei, eine kleine Klinik für Baba Amr einzurichten, auf besserem Niveau, in der auch operiert werden kann.
Wir werden diese neue Klinik einige Tage später besichtigen. In meinen Notizen sind die drei Kliniken in der Reihenfolge nummeriert, in der wir sie besucht haben: die erste ist das Krankenzentrum von Abu Bari, die zweite dieses Krankenzentrum hier, das, wie wir erfahren werden, von Imad und seinen Freunden eröffnet wurde, und die dritte die eigentliche Klinik, die auch von Imads Gruppe mit Unterstützung der FSA eingerichtet wurde.
*
10.20 Uhr.
Weitere Kostenlose Bücher