Notizen einer Verlorenen
sie nicht verstand, eine Außenstehende, die sie nicht ertrug. Alexander stritt gestenreich mit dem Kontrahenten von vorhin. Nichts in seinem Auftreten wies auf ein Gefühl von Betroffenheit hin. Wer war er? Was war er für ein Mensch, außer, dass er ein malender, ein trinkender und ein unberechenbarer Mensch war? In was für eine Person hatte ich mich verliebt?
Ich ging einsam im Saal auf und ab und versuchte, mich abzulenken. An der Wand beäugte ich mit Sorge die Galerie der verewigten ehemaligen Mitglieder, Männer und Frauen, Junge und Alte, in der auch Jens' Porträt hing. Sein Abbild zeigte ihn ein bisschen spöttisch. Wo war Jens' stets melancholischer und in sich gekehrter Gesichtsausdruck darauf? Ob er damals, genauso wie Lenger heute Abend, seinen Plan in einer Vereinssitzung bekannt gegeben hatte?
Ich nahm die Nähe eines Menschen hinter mir wahr. Es war Alex, ich spürte es bereits, bevor ich ihn ansah. Endlich einmal kam er mir wieder ein bisschen näher. Er lächelte, als ich mich zu ihm umdrehte und deutete auf Jens' Foto.
»Er hat seine Idee verwirklicht.«
Ich betrachtete Alexanders bewundernde Miene. Wann würde er seinen Termin in unserer Runde bekannt geben?
»Du darfst Jens' Tod nicht isoliert betrachten«, sagte er. »Erst im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt, den er wählte, die ausgesuchten Mitspieler und die Rollen, die er euch jeweils zuteilte, ergibt sich eine in sich geschlossene Geschichte, in deren Vollendung Jens starb.«
»Mitspieler? Du meinst, er hat mit mir gespielt?«
»Versteh doch, es war kein gewöhnlicher Selbstmord, wie ihn andere stümperhaft ausführen – nein, es war eine Komposition, die wir mit geschlossenen Augen nachträglich mit ihm durchleben sollten.«
»Und dazu hat Jens ausgerechnet Marc und mich ausgewählt?«
Alex tat überrascht.
»Ist doch klar – Marc, weil der ihm das Leben schwer gemacht hat und dich, weil er dich liebte. Du warst ein wichtiger Mensch in seinem Leben. Auch, nachdem du ihn verlassen hast.«
»Ich weiß nicht, ob sich Jens wirklich so viel dabei gedacht hat, oder ob du ihm da etwas zu viel andichtest. Wie oft hast du mit Jens darüber gesprochen?«
»Sehr oft! Er hat mir alles über seine Pläne erzählt und alles über euch. Auch, dass Sarah Look die Einzige war, die er liebte und die sich ab und zu noch immer um ihn kümmerte.«
Bei diesen Sätzen fühlte ich mich noch unwohler, war ich doch nicht sicher, was Jens ihm tatsächlich anvertraut hatte. Es war ja nicht so gewesen, dass ich mich ihm gegenüber immer nur verständnisvoll verhalten hätte.
»Na ja, gekümmert ist eigentlich übertrieben. In Wirklichkeit habe ich nicht nur ein schlechtes Gewissen wegen Jens, sondern auch Wut! Mich plagen noch immer diese Albträume. Kannst du verstehen, dass mich das wütend macht?«
»Was hast du gegen deine Albträume? Schrei sie heraus! Male sie raus! Du schreibst – schreib sie heraus! Ich selbst nehme meine Träume als Inspirationsquelle. Sie können mich wunderbar in Stimmung bringen.«
»In düstere Stimmung!«, ergänzte ich. »In todesdüstere Stimmung! Ich weiß nicht, ob mich so etwas inspirieren könnte, genießen kann ich es jedenfalls nicht.«
»Ohne meine Träume könnte ich niemals die Kunst schaffen, die ich der Welt vermache. Ich lebe davon und ich sterbe dafür! Die wahre Kunst kommt von innen, aus tiefsten Gefühlen heraus, ist geprägt von betörenden Emotionen. Es ist vollkommen egal, welcher Art die Empfindungen sind. Sie müssen nur stark sein.«
Seine Augen glänzten bei dem, was er sagte, und er fasste sich mit der geöffneten Hand auf sein Herz. »Von ganz tief drinnen müssen sie kommen.«
»Aber sie kommen aus dem Kopf und nicht aus dem Herzen«, berichtigte ich ihn. »Der Kopf ist die Wurzel, aus der alles sprießt, nicht das Herz.«
»Du solltest niemals die Macht des Herzens unterschätzen, Sarah! Jens hatte sein Herz vertrauensvoll in deine Hände gelegt. Es ihm zurückzugeben, war nicht geplant.«
»Alex! Hör auf! Du wühlst in meinen Schuldgefühlen! Merkst du das nicht? Warum tust du das?«
Er hielt einen Moment inne, als schluckte er herunter, was er eigentlich noch sagen wollte.
»Schuldgefühle, die sind doch völlig in Ordnung. Die wollte er auch Marc verpassen. Wie war das so mit Jens und Marc?«
Ich hätte heulen können bei dem Gedanken, dass Alex meine Schuldgefühle noch immer in Ordnung fand. Doch jetzt sprach er auf einmal von Marc. Ich ging darauf ein, schob die
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