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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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zu, um sie in Empfang zu nehmen.
    Es wurde eine schwierige Unterhaltung, besonders, da Leo stark schwerhörig war und entsprechend wenig verstand. Daraufhin wiederholte Mathilde ihm alles noch einmal und sie schien manchmal geradezu verärgert über seine Taubheit. Somit war es fast unmöglich, die beiden nicht wahrzunehmen und es bildete sich bald ein Kreis von Neugierigen um sie herum. Ich beobachtete Leo, der mit kleinen, fast schon tippelnden Schritten seiner Frau und Franziska zu einer Sitzgruppe folgte, aber im Gegensatz zu seiner Frau keinen Gehstock benutzte. Nach mehreren Verrenkungen landete er im Sessel, stellte fest, dass man in diesen aber sehr tief einsackte, und blieb dann weit nach hinten gelehnt dort sitzen. Wir konnten uns denken, dass er sich so schnell nicht wieder erheben würde.
    Was Mathilde und Leo zu uns führte, erfuhren wir gleich in Mathildes nächstem Satz.
    »Ja, weil wir uns doch umbringen wollen!«
    »Nun einmal ganz langsam«, beruhigte Franziska sie, die nervös Augenkontakt zu Buchheim suchte. »Sie brauchen Hilfe. Woher haben Sie denn unsere Adresse?«
    »Was sagt sie?«, fragte Leo dazwischen.
    »Die Adresse? Die haben wir von einem alten Freund! Sie müssen uns aber helfen!« Mathilde presste beide Hände zusammen vor ihrer Brust, als wollte sie beten. »Bitte, Sie müssen uns helfen! Schicken Sie uns nicht weg. Wir wissen nicht, was wir sonst tun sollen.«
    Beruhigend nahm Franziska ihre wippenden Hände und hielt sie fest.
    »Ist ja gut! Wir helfen Ihnen, wenn wir können. Wir können über alles reden. Nun sagen Sie uns erst einmal, was Sie so bedrückt, dass Sie sich umbringen wollen.«
    »Was sagt sie?« Leo streckte seinen Kopf seitlich nach vorne, um sein rechtes Ohr in Richtung der Sprechenden zu halten, doch man ignorierte ihn.
    »Wir sind doch schon so lange zusammen, mein Leo und ich – über sechzig Jahre schon! Wir wollen nicht auseinandergerissen werden. Darum!«
    Mathildes Stimme bebte und ihr schmaler Kopf zitterte, während sie sprach und ihre Augen schweiften Hilfe suchend in die Runde. Ich erschrak, als sie mich mit ihren geröteten Augen ansah. Fast hätte ich mit ihr geweint.
    »Sie sollen auseinandergerissen werden? Kommt jemand von Ihnen in ein Heim?«
    »Ins Heim? Warum sollen wir ins Heim? Nein – ER wird uns auseinanderreißen.«
    »Wer ist ER?«
    »ER, der uns alle trennt! Der Knochenmann wird kommen und einen von uns mitnehmen, aber wir wollen zusammenbleiben bis zum Ende! Keiner von uns beiden darf alleine zurückbleiben.«
    Jeder von uns hielt inne. Wir waren erschüttert. Franziska stand auf und besprach sich mit Buchheim, der weiter hinten an einem Schreibtisch saß, jedoch genau zuhörte. Dann kam sie zurück und legte eine beruhigende Miene auf.
    »Ich verstehe Ihre Angst. Wenn Sie möchten, geben wir Ihnen eine Adresse, wo man Ihnen besser helfen kann als hier. Ihr Fall ist vielleicht etwas zu schwierig für unsere … Therapie.«
    Doch damit ließ sich Mathilde nicht vertrösten. Und auch Leo, der offensichtlich doch mehr mit bekam, als wir dachten, rutschte aufgeregt im Sessel hin und her.
    »Wir wollen keine andere Adresse. Sie sollen uns helfen!«
    »Aber wir können nicht. Was Sie brauchen, ist eine wirklich gute Therapie und psychologische Unterstützung, damit Sie von diesen Gedanken weg kommen.«
    »Wir brauchen doch keine Therapie!«, rief die alte Dame entrüstet. »Wir wollen uns gemeinsam umbringen, bevor es das Schicksal tut. Basta! Und Sie müssen uns beistehen, sonst ist es zu schwierig für uns.«
    Jetzt erst begann uns zu dämmern, dass die beiden Alten wirklich genau wussten, was sie wollten und wo sie sich befanden. Jetzt kam Buchheim doch mit an den Tisch und mischte sich in das Gespräch ein.
    »Wie kommen Sie darauf, dass wir Ihnen dabei helfen könnten?«
    »Na, hier werden doch Selbstmörder unterstützt. Sie helfen doch allen, sich umzubringen.«
    Entsetzt riss Buchheim die Augen auf und wir alle blickten uns gegenseitig fragend an. In der Regel sprach man im Haus der Verlorenen nur sehr leise das Verbotene aus.
    »Psssst …«, machte Franziska deshalb.
    Buchheim fasste sich an die Stirn, als wollte er sie mit seiner Hand kühlen oder seine schwirrenden Gedanken auf diese Weise festhalten.
    Hinter seiner müden Fassade kam Leo hervor, während Mathilde zu weinen anfing. Er legte ihr tröstend eine Hand auf den Oberschenkel und sah Buchheim an, mit Augen, die plötzlich unglaublich intelligent

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