NOVA Science Fiction Magazin 20
Empfangskomitee?“ erkundigte sich Benedict freundlich, „falls
ich den Weg nicht allein finde?“
Dennoch
konnte er nicht umhin, die Perfektion der Projektion zu bewundern. Anders als
der himmelblaue Unterhändler hatte der Junge quicklebendige braune Augen, die
ihn unbefangen musterten, eine sonnenverbrannte Stupsnase, ein wenig schief
stehende Vorderzähne und Grübchen an den Mundwinkeln. Überzeugender konnte kein
richtiger Junge aussehen.
„Nein,
ich war nur ein bisschen neugierig“, erwiderte der Junge mit einem
Augenzwinkern, das klarmachte, dass er flunkerte.
„Irgendwie
traurig, dass es hier keine anderen Kinder gibt.“ Diesmal zwinkerte er nicht,
sondern sah Benedict ernst und aufmerksam an.
„Es
ist ein Kloster“, sagte Benedict, obwohl er ahnte, worauf der andere
hinauswollte. „Das wäre für Kinder auf Dauer ziemlich langweilig.“
„Ich
weiß, was Agion Oros ist“, stellte der Besucher klar. „Ein Ort, der
Erinnerungen bewahrt und das Leben ausschließt.“
„Dafür
existiert er aber schon relativ lange, vielleicht gerade, weil er die Welt
draußen nicht zu nahe an sich heran lässt. Wer sich für unsere Art zu leben
entscheidet, tut das freiwillig.“
„Das
bestreitet niemand“, entgegnete der Junge mit einem ungeduldigen
Schulterzucken, „und ändert auch nichts daran, dass eure Selbständigkeit eine
Illusion ist. Ein Ort, der aus sich selbst heraus überleben könnte, sieht
anders aus.“
„Draußen
leben mehr als 150 Milliarden Menschen, hier nur ein paar Hundert“, wandte
Benedict ein.
„Wir
nehmen niemandem etwas weg.“
„Nichts
währt ewig“, sagte der Junge, was sich aus dem Mund eines vermeintlich
Zwölfjährigen etwas seltsam anhörte. „Und das hier ist eine wunderschöne kleine
Welt. Es wäre schade, wenn sie eines Tages verlassen durchs All treiben würde.“
Vielleicht
war es nur ein kühler Windstoß, der Benedict einen Moment lang erschauern ließ,
vielleicht aber auch der plötzliche Ernst in der Stimme des Besuchers. Was
wussten sie?
„Eines
fernen Tages?“ erkundigte er sich vorsichtig.
„Das
ist immer eine Frage des Maßstabs“, erwiderte der Junge lächelnd. Natürlich
hatte er, hatten sie, Benedict durchschaut.
„Ist
das eine Warnung?“ fragte Benedict nunmehr direkt nach.
„Nein,
nur eine Möglichkeit, die man nicht ausschließen sollte“, wich der Besucher
aus. „Aber deswegen bin ich nicht hier.“
„Und
weshalb dann? Den Weg zur Kapelle finde ich auch allein.“
„Deinetwegen
natürlich. Ich sehe etwas, was du nicht siehst.“
Wieder
sah der Junge ernst und herausfordernd zu ihm auf, und plötzlich wusste
Benedict, dass das vermeintliche Kinderspiel die Prüfung war, die er zu
fürchten hatte.
Er
ging dennoch darauf ein.
„Und
wie sieht es aus, dieses Etwas?“
„Wie
ein Junge, der davongelaufen ist und Kleider trägt, die ihm nicht passen.“
„ Weggegangen erscheint mir treffender“, erwiderte Benedict nach einer Weile, „und ob Kleider
passen oder nicht, kann am besten derjenige beurteilen, der sie trägt.“
„Du
hast mich schon verstanden“, versetzte der Junge schulterzuckend. „Niemand
macht dir daraus einen Vorwurf. Manche Menschen tragen Zeit ihres Lebens die
falschen Kleider oder laufen vor sich selbst davon.“
„Was
KIs natürlich niemals einfallen würde“, flüchtete sich Benedict in den
Sarkasmus.
„Stimmt.“
Der Junge lächelte. „Wir besitzen nun einmal kein Ego, das wir beschützen
müssten. Ein Spiegel muss keine Grimassen schneiden können. Eigentlich wollte
ich aber auf etwas anderes hinaus.“
„Schon
wieder?“
„Ja,
und du solltest wenigstens darüber nachdenken.“
„Und
worüber?“ fragte Benedict mit einem flauen Gefühl im Magen.
„Über
diesen Jungen, der glaubt, alles hinter sich gelassen zu haben und noch immer
darauf hofft, dass der Schmerz irgendwann vergeht.“
Woher
können sie das wissen? dachte Benedict erschrocken. Er ahnte die Antwort schon seit dem Besuch des
Unterhändlers, weigerte sich aber, sie zu akzeptieren. Die Bemerkung des Jungen
konnte ebenso gut ein Schuss ins Blaue gewesen sein. Schließlich trugen nicht
wenige Menschen einen Schmerz oder ein Trauma mit sich herum …
„Und
was spricht dagegen?“ erkundigte er sich verunsichert.
„Etwas
ziemlich Wichtiges, Benedict Leonardt, zumindest für einen Mann des Glaubens.
Wie kannst du auf Vergebung hoffen, wenn du dir noch nicht einmal selbst
vergeben kannst?“
Es
dauerte ein wenig, bis
Weitere Kostenlose Bücher