November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
dabei sein. Was das für ein Leben ist. Die drei plaudern ungeniert miteinander, warum laden sie den Herrn nicht ein, sich zu setzen, die Leute im Gang können ja nicht vorbei.
Die Damen stehen auf, es kommt wohl jemand. Ah, die Neue. Herrlich. Ich könnte mich in die verlieben. Dabei ist sie nicht jung. Sie ähnelt der Blassen mit den kränklichen Augen. Sie hat einen kleinen Pinscher unter dem linken Arm, alle begrüßen ihn. Wie reserviert sie mit dem Herrn spricht, sie hat ein kleines, ganz feingeschnittenes Gesicht. Jetzt hört sie den beiden andern zu, die auf sie oder auf den Pinscher einreden, ihr Gesichtchen ist aristokratisch leblos.
Eine kleine Stunde saßen sie in dem Café der Aubette, dann hieß es gehen. Der Pfarrer erhob sich müde, was das für ein langweiliger Bursche ist, so sind die Männer alle aus unserer Garnison, und mit denen habe ich geschlagene vier Jahre zugebracht, da muß man ja verbauern.
Es war aber der Frau Oberleutnant bestimmt, den Tag noch viel lustiger zu verleben, als sie beim Aufbruch in der Aubette erwartete. Denn sie glich mit ihrem roten Näschen, das wieder der Witwenschleier bedeckte, einem Hund, der im Wind schnuppert und Witterung genommen hat und sich nicht abbringen läßt.
Sie blickte draußen rechts und links, es war noch immer feuchtkalt, noch immer Donnerstag, der Vierzehnte, der Kleber stand noch immer auf seinem Denkmal, die Sonne war verschwunden, es war dunkler geworden. Da glitt man auf das Zeitungshäuschen zu; in der Straße, rechts, stiegen Leute, Männer und Frauen in einen Abgrund, was war denn das, oh, Toiletten. Vor ihnen aber, auf der andern Seite der menschen- und wagenflutenden Straße, auf der schon die ersten Laternen aufleuchteten, strahlten grellste Lichter; das waren Geschäfte und Konzertcafés. Es schien, der Pfarrer hatte dafür kein Interesse, er ging, den Kopf gesenkt, die Hände in seinen schwarzen Manteltaschen vergraben, und sagte kein Wort. Aber Gustes flinke Äuglein hatten schon an den blinkenden Pfeilern eines Cafés das große Plakat entdeckt: Konzert, Tanz. Und Tanz, Tanz, das war das Zauberwort, das in sie fiel. Sie hatte bald ein Jahrzehnt nicht getanzt, ihr Mann liebte Sport, aber er tanzte nicht. Sollte man nicht tanzen? Sie ging langsam, der Pfarrer machte noch minutenlang seine langen Schritte, aber jetzt paßte er sich an, sagte: »Verzeihung«, aus seinen Träumen heraus. – Der denkt natürlich an seine Höhle in Westfalen oder Pommern oder an den ollen Krieg, wie die ganzen Männer; was aus uns wird, darum kümmern sie sich nicht.
Sie machte ganz kleine Trippelschritte und kam nicht von den blendenden Scheiben weg, es ist im ersten Stock, sicher, wenn ich nur wüßte, um wieviel Uhr. Und als sie noch erwog, wie es dem Pfarrer flüstern, hatte er selbst schon gesagt: »Sie möchten über den Damm? Gehen wir ein paar Schritt zurück.« Und da führte er sie grade auf die helle Scheibe zu, so daß sie erstaunt davor stehenbleiben konnte und, während er geduldig und ahnungslos wartete, »Ah« sagte und das Plakat studierte: »Tanz von ein halb fünf bis elf Uhr.« Sie tippte ihm keck auf die Schulter (sieh, wie rasch das geht; schneller, als wenn man nachdenkt) und zeigte auf die Inschrift. Seine Augen, die seit langem nur über Aufrufe und Kriegsbulletins gelaufen waren, nahmen gleichmütig die Bemerkung »Tanz von ein halb fünf bis elf Uhr« zur Kenntnis; die Buchstaben hinterließen keine Spur in seinem Hirn. Sie waren für ihn so wenig wichtig wie für eine Ameise, die an einem Dorfausgang ein kleines Käsestück gefunden hat und über deren Rückweg zum Nest grade eine bäurische Prozession mit Gesang wandert, so wenig für sie diese Gesänge wichtig sind; sie schleppt ihr Käsestückchen weiter und ist mit dem Studium der Bodenfurchen vollauf beschäftigt. Aber die schnuppernde Guste war so leicht nicht von ihrer Witterung abzubringen. »Onkelchen, komm mit, ich möchte so gern zusehen, wie sie tanzen.« Er war wirklich erschreckt und kam zum Bewußtsein. Sie duzte ihn, er furchte die Stirn und blickte sie streng an und war im Begriff, den Mund zu öffnen, und diesem Mund sollten die selbstverständlichen, vorbereiteten Worte des Protestes und der ernstlichen Ermahnung entschlüpfen. Aber da hatte sie – er wußte nicht warum, und von ihr war es auch nur eine rasche Bewegung, aber eine kluge – ihren Schleier zurückgeworfen und zeigte ihm ein so kindliches und verlangendes Gesicht, dazu solch sympathisches
Weitere Kostenlose Bücher