Novemberasche
eine auffällige Rolle. (…)
An Busbahnhöfen, wo sich Schüler sammeln, werden jüngere bewusst von etwas älteren Schülern angesprochen, sie erhalten Propaganda-CDs
geschenkt, die so genannten ›Schulhof-CDs‹, oder werden zu einer Party mit Musik oder einem Konzert ›mit guter Mucke‹ eingeladen.
Das beeindruckt in der Regel jüngere, wenn sie von älteren Jugendlichen ›auserwählt‹ werden. Dann läuft auch oft gute, sogar
populäre Musik gemischt mit Songs von neonazistischen Szenebands, Ideologie spielt zunächst kaum eine Rolle, aber es gibt
kostenlose oder preiswerte Getränke, Tabak, Gespräche, Angebote zur Hausaufgabenhilfe u
.
a
.
m. Auf diese Weise wird ein angenehmes Gruppenfeeling hergestellt, die politische Indoktrination folgt erst schleichend und
später.
(»Musik als Tor zur Szene«. Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb.de, 10. 3. 2009)
Warum stand Marie jetzt dort, dort, wo die Kinder gestanden hatten, warum stand überhaupt immer irgendjemand in dieser Tür?
Warum wollte nun auch Marie, dass sie aufstand? Das ergab alles wenig Sinn, denn was würde es ändern, wenn sie aufstände?
Was würde es ändern,wenn sie zu einem Notar ginge, der ihr das Testament, Eriks Testament, eröffnete? Das alles war jetzt ohne Bedeutung. Erik
war tot, er war tot.
Paulas Augen tasteten sich zurück zu ihrem Nachttisch. Alles sah aus wie immer. Die bodenlange Decke über dem runden Tisch,
gelb und weiß, die Nachttischlampe mit dem gelben Schirm, die Familienbilder in ihren schweren Silberrahmen, das große Glas
mit den bunten Weihnachtskugeln und der Lichterkette darin, all die Dinge, denen sie stets so große Bedeutung beigemessen
hatte, die sie über die Jahre hinweg mit sicherem Griff ausgewählt hatte, um dieses Haus, ach was, dieses Anwesen, noch schöner
zu machen. Die vier Lithografien über dem Konsoltisch, für die sie ein kleines Vermögen ausgegeben hatte. Der Rubelli-Stoff,
für den sie eigens nach Venedig gefahren war. Die Lampe aus Muranoglas, die sie bei dieser Gelegenheit gekauft hatte. All
das war nun ohne Bedeutung. Und so erwiderte sie Maries Blick nur stumm, reagierte nicht auf ihre Worte, die nun näher kamen,
auf ihre Berührung – oder war es nur ein Hauch? Denn sie wollte nichts mehr, nichts mehr im Leben als sterben.
*
»Hallo? Andreas?«
»Ja, Marie? Bist du’s?«
»Ja, ja, entschuldige, ich bin’s … Es geht um Paula, sie steht nicht auf. Und um zehn Uhr hat sie einen Termin beim Notar.«
»Gib sie mir mal.«
»Sie … Also sie will nicht mit dir sprechen. Sie spricht mit niemandem. Noch nicht einmal mit den Kindern.«
»Ich bin in einer halben Stunde da.«
Marie hörte ein Motorengeräusch, Kies knirschte in der Einfahrt, und kurz darauf stand Andreas im Zimmer. Gemeinsam betraten
sie das Schlafzimmer, durch dessen hohe Fenster die Morgensonne schräg hereinfiel und ein Rautenmuster auf das Eichenparkett
zeichnete. Der in Gelb und Weiß gehaltene Raum strahlte geradezu. Paula lag, wie zuvor auch schon, mit dem Gesicht zur Wand
auf dem antiken Biedermeierbett am anderen Ende des Schlafzimmers, das von den Dimensionen her ein kleiner Tanzsaal hätte
sein können.
»Paula?« Sie reagierte nicht.
Sommerkorn ging durch den Raum, in dem Staubpartikel in der Sonne flirrten, das Parkett knarzte unter seinen Schritten.
»Paula?« Er setzte sich auf den Bettrand, legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Komm, du musst dich anziehen, na los, du schaffst das.«
Immer noch keine Reaktion. Sommerkorn begegnete Maries Blick im Spiegel, der über dem Biedermeierbett hing. Marie trat näher,
strich Paula übers Haar.
»Vielleicht würde eine Tasse Kaffee helfen. Ich werde Frau Traubinger bitten.«
Kurze Zeit später stand Marie mit einem Becher Kaffee in der Hand vor dem Bett.
»Nun komm, jetzt trinkst du erst mal einen Schluck Kaffee, das wird dich beleben.« Sommerkorn drückte erneut Paulas Schulter.
Nach einer Weile drehte sie sich auf den Rücken, und als Marie schon nicht mehr glaubte, dass sie jemals wieder aufstehen
würde, stützte Paula sich auf die Ellenbogen, setzte sich auf und blieb so, mit rundem Rücken, sitzen. Sommerkorn griff nach
einem Kissen und steckte es hinter sie. Zuerst angespannt, dann mit Erleichterung beobachteteMarie, wie Paula einen Schluck Kaffee nahm, dann noch einen. Schließlich trank sie den ganzen Becher aus, schlug die Decke
zurück und zog sich an –
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