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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Schwäche und ihre Angst um ihn und die Kinder mitgeteilt. Und er? Er hatte immer die
     richtigen Worte gefunden, hatte sie mit sanften und zugleich starken Händen gehalten. Und doch selbst keinen Halt mehr gehabt.
    Paula spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte, sie würgte und rang nach Luft. Aus ihrem Innern drang ein kläglicher Laut,
     der sie im ersten Moment selbst befremdete. Es kam ihr vor wie das Wimmern einer anderen Person, die sie nicht kannte. Die
     Tränen liefen unaufhörlich über ihr Gesicht, in einem steten Strom, den sie weder stoppen noch wegwischen wollte.
    »Kein Halt, kein Halt, selbst keinen Halt mehr«, echoten die Worte in ihrem Kopf. Dann kam das Bild wieder,
das
Bild, das Schreckliche, das Entsetzliche, das nicht kommen durfte und das doch näher kam, das alles verschlang: Erik, wie
     er fällt und fällt. Und wie er aufschlägt, auf die harte Erde, die grausame Erde, die alles birgt, dasganze Leben, das sie hervorbringt, und auch den Tod. Wie sein Körper zerschmettert wird, mit einer Wucht aufprallt, die so
     vernichtend ist   … Der Aufprall, Aufprall, Aufprall. Sie presste die Hände auf die Augen, begann zu stammeln, »nein, nein, nein, weg, weg,
     weg«, den Kopf zu schütteln, um das Bild zu vertreiben, aber es wollte nicht gehen. Es wollte sich nicht vertreiben lassen,
     es war dort beheimatet, in ihrem Kopf, hatte sich dort eingenistet wie ein Parasit, und es würde sich von nun an von ihrer
     Angst nähren und wachsen und gedeihen.
    Sie sprang auf, wie von Dämonen gejagt, begann um sich zu schlagen, und ihre Schreie wurden lauter und lauter. Sie musste
     raus hier, denn hier war das Bild. Da sah sie das Fenster und verstand plötzlich, dass es nur eine Scheibe aus Glas war, die
     sie von dem Leben draußen trennte. Und ihre Schreie gingen im Klirren des Glases unter.
     
    *
     
    »Welche andere Sache?«
    Die Direktorin antwortete nicht gleich. Sie lehnte sich zurück, legte beide Hände auf den Tisch und fixierte Sommerkorn. Nach
     einer Weile nahm sie erneut ihr Glas und trank es mit einem Schluck leer.
    »Ich bitte Sie, diese Angelegenheit absolut vertraulich zu behandeln. Unser Institut hat eine lange Tradition   … Wo soll ich also beginnen   … Im Sommer vor zwei Jahren hat jemand versucht, unsere Website zu manipulieren. Vielleicht sollte ich besser sagen, dass
     es nicht bei dem Versuch geblieben ist. Offensichtlich hat ein Hacker die Sicherheitslücken ausgenutzt und gewisse Inhalte
     verändert.«
    Die Direktorin griff nach dem leeren Glas und umschloss es mit den Fingern.
    »Um was für Inhalte handelte es sich denn?«, fragte Sommerkorn und hielt den Atem an.
    Sie erhob sich und begann, im Raum auf und ab zu gehen. »Sie müssen entschuldigen, aber das Ganze hat mich viel Nerven gekostet.
     ›Die Sieben Salemer Gesetze‹ sind die von Kurt Hahn 1930 formulierten Grundlagen für die Erziehung, wie sie in unserem Institut
     noch heute Anwendung finden.«
    »Können Sie uns dafür Beispiele nennen?«
    »Ja, natürlich, zum Beispiel das erste Gesetz: ›Gebt den Jugendlichen Gelegenheit, sich selbst zu entdecken.‹ Oder das fünfte:
     ›Übt die Vorstellungskraft, die Fähigkeit vorauszuschauen und zu planen.‹ Nun, diese Texte wurden manipuliert, und so stand
     plötzlich auf unserer Seite: ›Die neue Generation wollen wir zu wirklichen Führerpersönlichkeiten, nicht aber zu weltfremden
     Stubengelehrten erziehen.‹ Das allein ist noch nicht besonders deutlich, so wie auch folgender Satz noch nicht besonders hervorsticht:
     ›Erziehungsmittel sind vor allem drei: der wissenschaftliche Unterricht, das Internatsleben und der praktische Dienst. Im
     Internat werden Kameradschaft, Ordnung und Disziplin als Erziehungsziel gesetzt.‹ Aber letztlich hat sich ein Vater über folgendes
     Grundprinzip gewundert: ›Erziehen heißt, der deutschen Jugend ihr angeborenes deutsches Wesen bewusst zu machen und dieses
     Bewusstsein in Tatwillen umzusetzen.‹ Dann ist die ganze Sache aufgeflogen. Dazu sollte ich vielleicht sagen, dass die Sätze,
     die ich soeben zitiert habe, aus dem Munde Adolf Schieffers stammen, dem Direktor einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt
     im Dritten Reich.«
    Sommerkorn und Barbara waren sprachlos. Die Direktorin war stehen geblieben und stand jetzt mit dem Rücken zu ihnen. Als sie
     fortfuhr, klang ihre Stimme gedämpft.
    »Wir untersuchten daraufhin unsere Website genauerund fanden noch jede Menge solcher Manipulationen. Zum

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