Novemberasche
dachte Marie und musste laut lachen. »Ach, Leni, du hast das Telefon doch gar nicht gehabt.«
Plötzlich erhellte sich Annas Miene und sie rief: »Jetzt weiß ich’s! Es war die Tante vom Weihnachtsmarkt, die aussah wie
aus dem Fernsehen.«
Marie ließ das Nudelholz sinken.
»Und Onkel Andreas hat mit ihr gesprochen, länger, meine ich?«
»Aber ja«, sagte Anna. »Eeewig! Ich habe inzwischen mein Bild fertig gemalt, das mit der Prinzessin auf der Erbse. Er hat
so lange telefoniert, bis ich gekommen bin und ihn am Ärmel gezupft habe.«
*
Die beiden Jungen, Thorsten Ehlers und Sven Radlowski, warteten in Sommerkorns Büro. Sie saßen auf den Besucherstühlen, sahen
sich unbehaglich um und ergriffen ebenso ungehaglich das Wort.
»Ja, wir wollten was melden. Aber wir wollen niemanden anschwärzen,« eröffnete Thorsten, ein hochgeschossener Junge mit undefinierbarer
Haarfarbe zwischen Mausbraun und Straßenköterblond, das Gespräch. Er erinnerte Sommerkorn an eine Kuh, was vielleicht an seinen
mahlenden Kiefern lag, zwischen denen ein Kaugummi steckte.
»Wir wissen nicht, ob das überhaupt eine Rolle spielt … Aber wo der Matti doch jetzt verschwunden ist …«
Sven war kleiner als sein Kumpel und hatte eng zusammenstehende Augen, stechende Knopfaugen von einem seltsam rötlichen Braun.
»Wir sind für alle Hinweise dankbar und froh, dass Sie sich entschlossen haben, zu uns zu kommen. Und wir werden sehen, ob
wir das, was Sie uns zu sagen haben, verwenden können. Zunächst aber ist es für uns wichtig, alles zu wissen.«
Die beiden wechselten einen raschen Blick, und Thorsten ergriff erneut als Erster das Wort.
»Ein paar Tage vor Leanders Tod muss das gewesen sein …« Wieder ein Blick zu seinem Kumpel, der nickte.
»Auf jeden Fall hatte Leander wohl im Schüler-VZ jemanden kennengelernt, eine heiße Nummer, wie er sagte. Und dann hat er
sich mit ihr verabredet oder, besser gesagt, sie sich mit ihm. Das war alles ziemlich eindeutig, was da abgehen sollte.«
»Was verstehen Sie unter
eindeutig
?«, hakte Sommerkorn nach.
»Na, was wohl?« Sven grinste Sommerkorn an. Was für ein unangenehmer Kerl, dachte er.
»Die beiden hatten sich also verabredet, um miteinander ins Bett zu gehen. Wo?«
»In einem Hotel in Bregenz. Die Tusse hat Leander Adresse, Datum und Uhrzeit gemailt und genaue Instruktionen geschickt, wie’s
abgehen sollte. Sie wollte ihn im Hotelzimmer erwarten, er sollte mit einem bestimmten Klopfzeichen auf sich aufmerksam machen.
Heiße Sache, so zumindest hat sich das angehört.«
Thorsten kaute jetzt schneller. Sven fuhr fort: »Auf jeden Fall ist er da dann hin. Ich mein, die Tusse soll auf den Fotos
echt heiß ausgesehen haben. Er hat, wie sie’s wollte, an die Zimmertür geklopft. Ja und dann – Mann, das ist einfach der Hammer … Da war weit und breit keine Frau, sondern … der Walser! Und können Sie sich vorstellen, wie? Ohne Hose. Der stand in der Tür ohne Hose.«
»Walser? Ist das nicht Ihr Mathelehrer?«
»Exakt! Das ist ja der Punkt. Deshalb wussten wir auch erst nicht, ob wir das erzählen sollten. Der Walser ist nämlich auch
unser Trainer im Karate und eigentlich ganz okay …«
Sommerkorn dachte einen Moment nach.
»Moment mal, Sie sagen, Leander wollte sich mit jemandem, der sich im Chat als Frau ausgab, in einem Hotel treffen. Und als
er ankam, öffnete Ihr Lehrer die Tür, unbekleidet.«
»Korrekt! Zuerst dachten wir natürlich, die schwule Sau wollte sich an Leander ranmachen … Aber dann hat Walser mit Leander gesprochen und ihm gesagt, dass er verarscht worden sei von einer Frau, mit der er sich,
na ja, verabredet habe.« Sven grinste.
»Wir wussten eben nicht, was wir von der ganzen Story halten sollten, aber nach allem, was passiert ist, dachten wir, es sei
vielleicht das Beste, es Ihnen zu erzählen.«
»In welchem Hotel soll das stattgefunden haben?«
Die beiden sahen einander an. »Was hat Matti nochmal gesagt, wie der Puff hieß?«
Sven zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr, irgendwas mit Rosen oder so.«
»Wann hat Leander Ihnen diese Story erzählt?«
»Er hat sie uns gar nicht erzählt. Er hat sie Matti erzählt. Eben deshalb sind wir ja da. Weil Matti jetzt verschwunden ist.«
☺
Heute hat ER gesagt, wir müssten weitermachen. Es gäbe so viel zu tun. Ich hoffe, er meint damit eine neue Flugblattaktion.
Ich werde nie wieder bei einer Aktion mitmachen, die einem
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