Novemberasche
stelle ich mir vor, sie tragen ihre
Gesichter! Wenn ich sie nur auslöschen könnte, wenn sie einfach vom Erdball verschwinden würden, sich in nichts auflösen würden.
Und was ist das Nichts anderes als der Tod?
*
»Thomas Kreutzberg? Eine ganz schreckliche Geschichte.« Der Direktor des Ravensburger Gymnasiums, der Schule, die Tommy zuletzt
besucht hatte, erhob sich und schloss die Tür zum Korridor.
»Der Junge war sehr begabt. Das Zeugnis, mit dem er auf unsere Schule wechselte, war herausragend. Aber er hat nicht lange
am Unterricht teilgenommen.«
»War er krank?«
Der Direktor seufzte. »Zunächst fehlte er einfach unentschuldigt. Wir haben seine Mutter benachrichtigt, weil er noch nicht
volljährig war. Die wusste gar nichts davon. Und eine Weile später kam er in psychiatrische Behandlung. Er muss schwere psychische
Probleme gehabt haben. Irgendwann hörten wir dann von dem Suizid. Was mich zutiefst erschüttert hat, aber ehrlich gesagt nicht
überrascht. Der Junge hatte völlig den Halt verloren.«
»Sie halten einen Selbstmord also für wahrscheinlich?«
»Das tue ich. Aber sprechen Sie doch mit dem behandelnden Arzt, ich kann Ihnen den Namen geben.«
☺
Heute war ich mit dem Fahrrad im
Kaufland
, Mam hat Spätschicht und sie bat mich, einkaufen zu gehen. Da standen sie plötzlich hinter mir, alle vier. Völlig lautlos
haben sie sich angeschlichen. Es war schon spät, neun Uhr, und weit und breit keiner in Sicht. Sie haben mich ans Regal gedrängt
und mich gefragt, ob ich glaube, dass eine neue Schule mein Problem löst. »Wenn uns nicht alles täuscht, fährt dein Muttchen
immer mit dem Rad zur Arbeit. Und da kommt sie doch immer an diesem Waldstück vorbei, nicht wahr?« Ich wünschte, diese Psychopathen
würden einfach verrecken. Wie habe ich mich je mit ihnen einlassen können, wieso habe ich nicht früher gemerkt, was das für
welche sind?
*
Der Arzt war groß und ernst und erinnerte Sommerkorn an einen traurigen Hund.
»Thomas Kreutzberg litt an paranoider Schizophrenie. Er bildete sich ein, die Figuren eines Computerspiels seien hinter ihm
her und wollten ihn töten.«
»Wie lange war er in Behandlung?«
»Zweieinhalb Wochen in der Jugendpsychiatrie.« Der Arzt blätterte in der Krankenakte. »Er hörte Stimmen, fühlte sich verfolgt,
wäre wohl bei sich zu Hause beinahe einmal aus dem Fenster gesprungen. Er bildete sich ein, ein Mann, den er manchmal den
Stummen Reiter
oder auch
The Silent Knight
nannte, sei hinter ihm her.«
»Was sagten Sie gerade?«
»Dass diese Figur …«
»Nein, nein, den Namen.«
»Tommy nannte ihn den
Stummen Reiter
oder
The Silent Knight
.«
☺
Aber jetzt habe ich ja den stummen Reiter. Wenn im Leben nur auch alles so einfach wäre.
*
Diesmal trug Helen Schnürstiefel mit spitzen Absätzen, auf denen sie durch Maries Malerwerkstatt stolzierte.
Klack, klack. Marie wartete ab. Sie war nicht mehr im Geringsten nervös, jedenfalls nicht wegen der Ausstellung, und schon
gar nicht wegen dieser Frau. Sie hatte jetzt ganz andere Dinge im Kopf. Sie musste so schnell wie möglich zu Paula. Entsprechend
einsilbig waren ihre Antworten auf Helens Fragen zu den Bildern. Als Helen nach einer guten Stunde fertig war – sie hatte
alle Bilder fotografiert und eine Kurzbeschreibung samt Nummer auf ein Diktiergerät gesprochen –, konnte Marie es kaum erwarten, sie endlich gehen zu sehen. Am liebsten hätte Marie sie zur Tür hinausgeschoben.
Kaum war Helen in ihr schickes Cabriolet gestiegenund von dannen gebraust, saß Marie auch schon hinter dem Steuer ihres geliehenen Golfs. Sie war nervös, ihre Hände waren feucht,
und sie hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie Paula wohl reagieren würde? Das letzte
Mal am Telefon war sie ihr recht ruhig erschienen, aber das war wahrscheinlich auf die Medikamente zurückzuführen.
Paula saß am Fenster, ein Buch lag auf ihrem Schoß. Sie las nicht, als Marie das Zimmer betrat, sondern blickte nach draußen
in den grauen Tag.
»Hallo.« Marie ging zu der Freundin und drückte sie.
»Hallo.« Paula lächelte flüchtig.
Das ist doch schon mal was, dachte Marie. Vielleicht ein Anfang. Marie zog einen Stuhl heran und setzte sich Paula gegenüber.
»Was liest du?«
Paula klappte das Buch zu. Zuckte die Achseln. »Nichts.«
Marie räusperte sich. Sie betrachtete Paula, das blasse, teigige
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