Novemberasche
Überlegte.
Vielleicht war Eva doch rechts abgebogen, in den landwirtschaftlichen Weg?
Marie ging auf die Schranke zu, die man leicht umgehen konnte, da kein Zaun das Gelände umschloss. Aber durfte man da überhaupt
einfach so rein? Sie sah sich um, konntejedoch kein Verbotsschild oder einen anderen Hinweis finden. Zögernd ging sie rechts an der Schranke vorbei und blieb nach
ein paar Metern stehen. Irgendetwas hier war unheimlich. Wieder blickte sie sich um, taxierte den Holzstoß am Wegrand, die
aufgeschichteten Äste, die zu Häufen getürmt waren. Und da sah sie es. Hinter einem Baum auf dem Boden liegend. Evas Fahrrad.
Unwillkürlich tat sie einen Schritt zurück, hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Nur das Rauschen des Verkehrs auf der
B31. Ansonsten Stille. Was tat Eva hier, auf diesem sonderbaren Gelände, an diesem Ort, der ein Niemandsland zu sein schien. Ganz
vorne, an der Straße, hatte ein kleines gelbes Schild gestanden: »Ziegelgrube«. War das das Geheimnis? Eine vergessene Ziegelgrube?
Aber warum war Eva hier, in dieser Einöde? Hier fährt man doch nicht hin, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Auch wenn
man die Einsamkeit liebte, da gab es andere Gegenden, die ansprechender waren. Marie sah den Weg entlang, dorthin, wo er in
einer Biegung verschwand. Sie fühlte Unbehagen aufsteigen. Das Gebüsch, die Erlen, das Fahrrad, die dürren Äste am Wegrand,
ein paar verrostete Getränkedosen – all das machte zugleich einen armseligen und bedrohlichen Eindruck. Irgendwo kreischte
eine Krähe, rau und hämisch. Etwas raschelte, dann ein Knacken im Gebüsch. Marie schrak auf, drehte sich um und rannte, so
schnell sie konnte, zum Wagen zurück.
Eine Weile stand sie einfach an ihrem Auto und dachte nach. Im Grunde musste sie sich auf den Heimweg machen, wenn sie Helen
Kattus nicht vor ihrer Haustür warten lassen wollte. Sie beschloss, noch zehn Minuten zu bleiben, um zu sehen, ob sich noch
etwas täte. Und in der Tat dauerte es keine fünf Minuten, da tauchte Eva wieder auf. Sie setzte sich aufs Rad und fuhr, so
schnell siekonnte, davon, in Richtung Friedrichshafen. Erst als sie in das kleine Waldstück einbog, fiel Marie auf, dass die rote Plastiktüte
in Evas Fahrradkorb fehlte.
☺
Erik hat mir ein cooles Spiel geschenkt. »Wird dich ein bisschen ablenken von dem, was immer du mit dir rumschleppst.« Und
das Spiel macht tatsächlich voll Bock, wenngleich Mam sagt: »Ich will nicht, dass du so einen Mist spielst.«
*
Beide Jungen schwiegen.
»Wie meint ihr das, Tommy war ein Loser?«, wiederholte Sommerkorn seine Frage.
Sven Radlowski antwortete mit einem Achselzucken, das etwas Eckiges an sich hatte. Thorsten Ehlers antwortete, wobei er um
größtmögliche Schnoddrigkeit bemüht schien:
»Das, was es heißt, er hatte nix drauf. War’n typisches Opfer.«
»Aber eine Zeit lang war er doch Teil eurer Clique?«
»Tommy hat nie richtig dazugehört«, sagte Sven Radlowski halblaut.
»Warum war er dann überhaupt dabei – eine Zeit lang?«, fragte Sommerkorn.
Die beiden zuckten die Achseln.
»War er auch dabei, als ihr die Dönerbuden in Brand gesteckt habt?«, fragte Barbara.
Ehlers lachte. Es hörte sich an wie das Meckern einer Ziege. »Zuerst schon. Aber mit dem war ja nichts anzufangen. Der hatte
die Hosen dermaßen voll …«
»Und als er nicht mehr mitmachen wollte, habt ihr dieses Video ins Internet gestellt«, sagte Sommerkorn undsah von einem Jungen zum anderen. Sie saßen da wie vom Donner gerührt. Bingo, dachte Sommerkorn.
»Ihr wolltet ihn öffentlich fertigmachen. Damit er auf jeden Fall den Mund hält. Und weil das nicht gereicht hat – vielleicht
wollte Tommy ja zur Polizei gehen oder sich sonst jemandem anvertrauen – habt ihr ihn kurzerhand zum Schweigen gebracht. Ein
Stoß von einer Brücke, und die Sache war ein für alle Mal erledigt.«
Wieder schwiegen die beiden. Dann brach es aus Sven heraus: »Was? Was wollen Sie uns hier anhängen? Wir haben nichts mit Tommys
Tod zu tun! Der war völlig durchgeknallt. Fragen Sie mal die anderen.«
☺
»Hock doch nicht die ganzen Ferien in der Bude rum. Draußen scheint die Sonne, geh zum Baden, fahr Rad, aber verkriech dich
doch nicht mit diesem Ballerspiel.« Wie könnte ich ihr erklären, dass ich Angst habe, ihnen zu begegnen? Der stumme Reiter
ist bessere Gesellschaft. Während er die Fratzen und Monster mit seinem Speer durchbohrt,
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