Novembermond
hinab, bis er vor einer verschlossenen Kellertür stand. Dort ließ er sich langsam auf den Boden sinken, schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, seinen zitternden Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
Das Treppenhaus war still und blieb es auch.
Er spürte ängstlich hinaus in Nacht, aber er konnte sie nicht mehr wahrne h men , keinen Hauch der Energie, vor der er geflohen war , und endlich atmete er erleichtert auf. Nie wieder , hatte er geglaubt. Dass er diese Angst und Hilflosi g keit nie wieder spüren müsste.
Daniel hatte sich innerhalb der Gemeinschaft sicher gefühlt und geschützt. I n zwischen konnte er an Patrouillen und Einsätzen tei l n ehmen und hofft e , bald regelmäßig für die Nacht-Patrouille arbeiten zu dü rfen. Selbst bei der Jagd nach einem Dämon war er schon dabei. Er hatte sein zweites Arkanum hinter sich, das dritte stand bevor. Aber sein mühsam auf gebautes Selbstvertrauen war soeben ze r splittert wie Glas. Und das Leben, das er zuletzt führt e , kam ihm plötzlich unendlich wertvoll und brüchig vor.
Denn es gab noch ein anderes.
Daniel wusste, wem er dort draußen fast in die Arme gelaufen w ä r e . Paul g e hörte zu denen, die Gregor seine „ Familie “ nannte. Und wenn Paul in Berlin war , konnte das nur heißen, dass sich auch die anderen – Gregor, sein Stellve r treter Martin und der Rest – in Berlin befanden .
Sie waren also hier. Er wusste, dass die Gemeinschaft sie jagte. Und er wünsc h te sich nichts mehr als ihren Erfolg.
Angst und Entsetzen breitete n sich in seinem Körper aus, und gegen seinen Willen tauchten Bilder vor ihm auf, grell und intensiv wie Blitzlichter, die er nie vergessen konnte . Paul, der über ihm kauerte und seine Zähne in seinen Hals schlug. In seine Schulter und in seine Brust. Und nicht nur Paul. Auch die and e ren. Ihre Hände und Mün der, die über ihn verfügten und sich jederzeit nahmen und von ihm ve r langten, was sie wollten. Nicht nur sein Blut.
Daniel hatte in einem Albtraum des Grauens gelebt, in ängstlicher Er war tung, was der nächste Moment ihm bringen würde, ohne Wünsche und Hoffnung, von Tag zu Tag. J eder Gedanke an später und die Zukunft weckte keine Hoffnung, sondern nur Verzweiflung, bis es ihm irgendwann gelang , jedes Zeit gefühl zu ve r lieren.
Nicht auffallen. Aushalten. Gehorchen.
Eine völlige Abstumpfung und Gefühllosigkeit, die er gegen seine Lebendigkeit ei n tauschte, um seinen Verstand zu retten, weil der immerwährende Schre cken, mit dem er leb en musste , einfach zu bedrohlich war .
Es war Paul, der ihn damals angesprochen und in Gregors „ Familie “ entführt hatte . Allerdings war da auch niemand, der ihn vermisste und zu dem er hätte zu rückkehren können.
Die ersten Jahre hatte er mit seinem menschliche n Blut gedient, bis er von Ma r tin schwer verletzt und von Gregor aus einer Laune heraus im letzten Moment gewandelt w urde . Doch auch danach hatte n sich die Dinge für ihn kaum verbe s sert, nun als Vampir in der Hierarchie an letzter Stelle.
Daniel spürte, dass der Schock der Begegnung langsam nachließ. Er brachte ihm aber keine Erleichterung, im Gegenteil. Jetzt, da die Betäubung verschw an d , nahm seine Panik wieder zu.
Paul ist da, e r wird mich holen; dieser Satz ging ihm unentwegt durch den Kopf, und seine Gedanken verliefen sich in einem Labyrinth aus Angst.
Die Angst schien sich immer weiter auszubreiten, seinen Körper auszufüllen, sodass er selbst keinen Platz mehr darin hatte und sich zurückzog, irgen d wohin ins Nichts. Daniel kreuzte die Hände vor der Brust, umschlang seinen Körper und begann sich zu wiegen, nach vorn und hinten zu schaukeln, eine alte G e wohnheit , um sich zu beruhigen, die er längst verloren glaubte. Er wus s te nicht, wie lange er so auf den Treppenstufen saß . Er spürte nur, dass sich auf einmal etwas änderte. In ihm.
Es war eine neue Stimme, die er hörte, leise zuerst, und nicht seine eigene. Es war die von Pierre, eine Erinnerung daran, was er einmal zu ihm ge sagt hatt e . „Du bist nicht mehr der, der du früher war st. Du bist D a niel. Und du bist stark.“
Daniel wiederholte die Worte wie ein Mantra. Der Schrecken ließ ganz langsam nach, ve r ließ seinen Körper, sein Kopf wurde frei, und er gewann endlich wieder Macht über sich. Daniel hörte ruckartig auf zu schaukeln, griff mit zittrigen Fi n gern in seine Jackentasche und hielt unschlüssig das Handy fest. Er könnte Pierre anrufen. Jederzeit, denn
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