Novemberrot
Haar hatte sie mittels Gummi zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Nur ein paar seitliche Haarsträhnen ragten in ihr blasses Gesicht und bedeckten Teile der rechten Wange. Ihre schlichte Kleidung bestand aus einer grauen Wolljacke über dem dunkelroten Rollkragenpulli, dazu trug sie eine hellblaue, verwaschene Jeans und an den Füßen geschlossene Hausschuhe aus schwarzem Leder. Gebannt starrte er nun in die strahlend blauen Augen, in die er seit fast einem Viertel Jahrhundert nicht mehr geblickt hatte. Weller war im Laufe seines Lebens zu einem hartgesottenen Menschen geworden, den nichts und niemand so leicht aus der Fassung bringen konnte. Doch in diesem speziellen Fall war es wie eine Art von Zauber, der urplötzlich zwei Herzen in ihm schlagen ließ.
Das berufliche, kühl abwägende, welches von ihm schlichtweg nur die Ausübung seines Jobs verlangte und das persönliche, gefühlsbetonte, welches diese tiefgreifenden, emotionalen Momente, seien sie auch noch so lange her, nie vergessen hatte. Unweigerlich stiegen zahlreiche Erinnerungen an damals in ihm auf und diese sorgten dafür, dass er außer einem einfachen »Hallo Rosi« zunächst nichts über seine Lippen brachte. So als wenn Rosi ihn bereits erwartet hätte, bat sie ihn ohne viele Worte der Begrüßung zu verlieren hinein ins Haus.
Fritz folgte ihr zur Küche, die sich nach wie vor auf der rechten Flurseite des Erdgeschosses befand. Das Feuer loderte im schweren gusseisernen, weiß-emaillierten Ofen, an dessen Reling aus poliertem Eisen einige karierte Küchenhandtücher zum Trocknen aufgehängt waren. Links daneben stand ein Weidenkorb, gefüllt mit Brennholz und Briketts. Das mit Silberbronze gestrichene Ofenrohr stieg noch immer parallel zur Wand empor, knickte dann rechtwinklig ab und verschwand gut einen Meter unterhalb der Zimmerdecke im Kamin.
Auf den ersten Blick schien sich hier nichts verändert zu haben. Doch nahm man sich etwas Zeit, so entging einem nicht, dass auch hier der Zerfall bereits Einzug gehalten hatte. Der ramponierte schwere Küchentisch war umrandet von einer billigen, mit rotschwarzem Kunststoff überzogenen Eckbank. Und auf der anderen Seite befanden sich zwei Holzstühle, Marke Eiche Rustikal, auf denen je ein mit braunem Stoff bezogenes, durchgesessenes Sitzkissen lose lag. Die rissigen, hölzernen Dielen des Fußbodens waren übersät von Kerben und Macken. Und auch über die altmodische hellgrüne Wandtapete hatte sich ein schmutzig grauer Schleier gelegt. Rechts an der Wand, im offenen Regal des ebenfalls aus dunkler Eiche bestehenden Küchenschranks, dudelte leise ein kleines Koffer-Radio vor sich hin. Rosi reichte Weller ein Frottee-Handtuch, damit er sich seine klatschnassen Haare trockenrubbeln konnte .
» Es ist der einzige Raum, den ich beheize. Wenn du willst, kannst du mitessen. Es ist zwar nur Kartoffelsuppe, aber mehr habe ich leider nicht«, bot sie Fritz an, lächelte verlegen und schien sich dabei für ihre derzeitige Lebenssituation zu schämen. Der nahm, da er außer einer Tasse schwarzen Kaffee heute noch nichts zu sich genommen hatte, diese Einladung gerne an .
» Aber was treibt dich denn nach all den Jahren hierher?«, wollte Rosi nun vom Polizisten wissen. Diese Frage rüttelte den Kommissar wieder wach, der angesichts dieser Umgebung und nicht zuletzt wegen Rosis Anwesenheit gedankenverloren in die Vergangenheit abgetaucht war .
» Manfred ist heute Morgen tot aufgefunden worden«, sagte er nun nüchtern und blickte ihr ins Gesicht .
» Ist er …?«, fragte Rosi und stoppte dann abrupt .
» Ja, es deutet alles darauf hin, dass er umgebracht wurde«, antworte er leise.
Ihre Reaktion und das an den Tag gelegte Verhalten erinnerten Weller stark an 1967, als sie der Familie die Nachricht vom Mord an Heinrich Kreismüller, Rosis Stiefvaters überbrachten. Keine Tränen, kein Niedersinken und nicht die üblichen Anzeichen von Trauer, da man soeben vom Verlust eines nahestehenden Menschen erfahren hatte. War sie wirklich so eiskalt, oder schockierte sie diese Nachricht so sehr, dass es ihr einfach nicht möglich war, in diesem Augenblick ihren wahren Gefühlen freien Lauf zu lassen? Sie drehte sich nur um, schaute aus dem Fenster und sprach monoton vor sich hin: »Das musste ja irgendwann passieren. Er hat es ja förmlich herausgefordert. Mit jedem hat er sich angelegt.« Weller drehte sie energisch zu sich um und hielt sie mit beiden Händen fest .
» Rosi, die gleiche Todesursache wie bei
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