Novemberrot
Heinrichs Frau Maria, noch deren gemeinsamer Sohn Manfred anwesend zu sein. Bis auf einen Gast, der mit dem Rücken zur Eingangstür unmittelbar vor ihm saß, konnte Fritz in alle Gesichter sehen. Und trotzdem war er sich absolut sicher, den Mann zu kennen. Aber woher nur?
Die Trauerfeierlichkeiten waren in vollem Gange. Fritz verharrte gute drei Meter hinter der Schiebetür im Saal und wurde zunächst von den Gästen nicht beachtet. Doch plötzlich stoppten alle ihre Gespräche und sahen in seine Richtung. Wie gebannt klebten ihre Blicke am Gast, der Fritz seinen Rücken zugedreht hatte. So als habe jemand unter ihnen ein Zeichen gegeben, wanderten ihre Blicke zum Kommissar und fixierten ihn. Angst ergriff ihn. Er rang nach Luft. Langsam drehte sich der Mann vor ihm um.
Als Fritz sah, wer da vor ihm hockte, atmete er erleichtert auf. Es war sein damaliger Kollege Winfried Schuster. Doch nur Sekundenbruchteile später gewann das blanke Entsetzten wieder die Oberhand in seinem Hirn. Denn Schuster war doch bereits seit fünf Jahren tot. Schließlich hatte Fritz als einer von Sechsen den Sarg mit Winfrieds Leichnam bei dessen Beerdigung getragen .
» Gnädiger Herr, belieben mit uns eine Tasse des aromatischen Kaffees einzunehmen?«
Es war tatsächlich Schuster, der, wie er es liebte, einen versnobten Adeligen zum Besten gab. Fritz nahm die weiße Tasse zögernd in die Hand, die ihm sein ehemaliger Kollege reichte und trank einen kräftigen Schluck daraus. Doch die süßliche Flüssigkeit schmeckte nicht nach Kaffee. Er setzte die Tasse sofort ab. Angewidert musste er feststellen, dass sich stattdessen dunkelrotes warmes Blut in dem Gefäß befand. In dem Moment tranken alle anderen ihre Tassen in einem Zuge aus und wischten sich mit ihren Händen das Blut von den Lippen .
» Das ist Blut, Winfried!«, schrie Fritz entsetzt .
» Was hast du erwartet? Aber du errätst nicht, von wem es ist!« Winfried sah Weller fragend an .
» Sag schon!« Fritz taumelte verängstigt einige Schritte zurück .
» Es ist deins! Dein Herzblut Fritz, das du über all die Jahre vergossen hast. Und jetzt beende endlich, was du damals begonnen hast.«
Fritz lief an Rosi, die die ganze Zeit teilnahmslos im Türrahmen gestanden hatte, vorbei, zurück in die Wirtschaft. Gesichtslose Gestalten hetzten ihm nach und hatten ihn schnell umzingelt.
Mit weit aufgerissenen Augen erkannte Fritz nur deren riesige, blutverschmierte Münder. Immer und immer wieder zischten sie fordernd: »Beende es, beende es, beende es!« Fritz ging aus Furcht in die Knie, senkte seinen Kopf und hielt seine Arme schützend darüber .
» Tohn, Kundschaft!« Fritz fand sich in geduckter Haltung wieder. Sein Herz raste. Er zitterte am ganzen Körper. Der alte Mann an der Theke hatte ihn bemerkt und nach dem Wirt gerufen. Durch das Geschrei des knorrigen Greises wurde Weller gottlob aus diesem merkwürdigen Tagtraum zurück in die Realität befördert. Der Kommissar erhob sich und schüttelte ungläubig seinen Kopf:
»Mensch, was war das denn? Wenn das so weiter geht, kann ich mich noch in die Klapse einliefern lassen.« Er wische sich mit einem der Papiertücher die zahlreichen Schweißperlen von seiner Stirn.
Kurz darauf hallte aus dem Durchgang hinter der Theke ein schläfriges »ja ja, ich komme schon«. Kaum waren diese Worte verklungen, kam deren Absender in die Wirtsstube geschlurft. Auch dessen Kleidung drückte, wie die übrige Einrichtung, eher eine gewisse konservative Langlebigkeit, denn überschäumenden Enthusiasmus bezüglich der aktuellen Mode aus.
Die dunkelbraune Stoffhose mit diesem enormen Schlag und das beige Hemd waren wohl seine Hommage an die frühen Siebziger. Weller erkannte Pohlert direkt wieder. Zwar sichtlich in die Jahre gekommen, doch immer noch diesen umtriebigen Ausdruck in seinem Gesicht, sobald er ein mögliches Geschäft witterte. Fritz hatte zudem den Eindruck, dass Tohn, wie ihn die Einheimischen nannten, auch im Laufe der letzten Jahre geschrumpft war.
Jedenfalls hatte er den Wirt als genauso groß wie er selbst in seiner Erinnerung. Anton Pohlert starrte den unerwarteten Gast mit großen Augen an und sagte nach einer kurzen Pause des Nachdenkens freundlich lächelnd: »Der junge Kommissar, der den Mord am alten Kreismüller aufklären wollte, herzlich willkommen!«
»Und jetzt bin ich hier, um den Mord am jungen Kreismüller aufzuklären, schönen guten Abend!«
Es fühlte sich für Weller merkwürdig an, aber irgendwo
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