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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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Vater weitergegeben. »Hallo, Lina«, hörte ich seine Stimme. Sie klang rau, ganz anders als sonst.
    »Hallo, Papa«, sagte ich und begann zu heulen. Ich wollte nicht, ich wollte ihm erzählen, wie alles passiert war. Er sollte verstehen, dass es bloß ein Spiel gewesen war. Aber ich kam einfach nicht gegen die Tränen an.
    »Wo bist du? Wenn du willst, komm ich dich holen«, sagte mein Vater. »Ohne Polizei. Ich schaffe das schon.«
    »Mensch, Papa. Es tut mir so Leid«, sagte ich und konnte wieder nicht weiter. Dann legte ich auf.
    Vor der Telefonzelle wartete ein älterer Mann. Als ich herauskam, lächelte er mich freundlich an. »Sehr schlimm?«, fragte er.
    Ich nickte stumm, wischte mir dabei die Tränen von der Backe.
    »Ja, Ja, die Liebe«, sagte er. »Die kann einem ganz schön zu schaffen machen. Stimmt’s?«
    Der Mann war so nett und ich war so fertig – es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte ihm die ganze Geschichte erzählt. Meinetwegen hätte er dann die Polizei alarmieren können, das wäre mir egal gewesen. Aber ich hab mich dann doch nicht getraut. Leider.
    Stattdessen schleppte ich die Einkaufstüten zum Zaun hinter dem Kinderspielplatz, hob sie hinüber, kletterte hinterher und befand mich kurze Zeit später wieder auf dem Feld. Die Sonne war inzwischen hinter dunklen Wolken verschwunden, der auffrischende Wind trieb mir Eisnadeln ins Gesicht. Schon nach wenigen Schritten wogen die beiden Einkaufstüten Tonnen, ich kam nur noch im Schneckentempo vorwärts. Schließlich setzte ich mich in den Schnee und packte eine Flasche Cola und zwei belegte Brötchen aus. Nachdem ich gegessen und getrunken hatte, war mir sterbensübel.
     
    Sie wundern sich über mich. Kann ich mir denken. Da lese ich in der Zeitung, dass bei dem Überfall eine alte Frau gestorben ist. Und da hab ich nichts Besseres zu tun, als erst mal gut zu essen. Da hab ich mit meinen Eltern telefoniert, die am Ende sind, die sich wahnsinnige Sorgen um mich machen. Und ich? Ich achte darauf, wie das Wetter ist und wie sich der Wind anfühlt. Natürlich hab ich geheult, wenigstens das spricht für mich, oder? Aber sind Tränen allein eine angemessene Reaktion auf solch eine fürchterliche Nachricht?
    Wahrscheinlich kann mich niemand verstehen, der so was noch nicht erlebt hat. Mein Kopf war derart voll, dass er sich abschaltete. Von einem Moment zum anderen. Ich existierte nur noch vom Hals an abwärts. In meiner Haut, die immer kälter wurde. In meinen Beinen, die automatisch Schritt vor Schritt setzten. In meinem Bauch, der keine Ruhe gab. In meiner Brust, die bei jedem Atemzug schmerzte. Ich hatte genug damit zu tun, die schweren Einkaufstüten über dieses verfluchte Schneefeld zu schleppen. Da war für nichts anderes Platz. Verstehen Sie? Vielleicht geht es Schiffbrüchigen ähnlich. Oder Bergsteigern, die von einem Wetterumschwung überrascht werden. Ich bin kein gefühlloses Monster, das stimmt einfach nicht, auch wenn man das nach dem, was geschehen ist, denken könnte. Wegen der alten Frau tut es mir so Leid, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr. Noch einmal: Ich wollte das alles nicht. Und Jurij auch nicht. Das ist die Wahrheit.

8.
    Kaum war ich im Wald, fing es wieder an zu schneien. Zuerst schwach, dann immer stärker. Wenn es sonst Anfang November Schnee gegeben hatte, war er höchstens für ein paar Stunden liegen geblieben. Jetzt schien er für die nächsten Wochen alles unter sich begraben zu wollen. Kein Mensch begegnete mir, die wenigen Vogelstimmen, die ich auf dem Hinweg gehört hatte, waren verstummt. Jedes Geräusch verschwand unter der dicker werdenden weißen Decke. Ich fühlte mich wie auf einem Planeten, der kalt und verloren durch den Weltraum kreist.
    Wenn ich mich jetzt in den Schnee gelegt hätte, um auszuruhen, wäre ich wahrscheinlich eingeschlafen. Und erfroren. Ohne Schmerzen, ohne den Tod zu spüren. Sterben – wäre das nicht die Lösung gewesen? Eine alte Frau war tot. Jurij wartete mit seinem verletzten Knie auf mich. Tom hatte gezeigt, wie unberechenbar er war. Und die Polizei suchte nach der angeblichen Fahrradbande, überall kannten sie unsere Gesichter. Innerhalb eines Tages waren wir zu Verbrechern geworden, die man wegschließen, vor denen man anständige Leute schützen musste.
    Schließlich erreichte ich die Lichtung, auf der das Ausflugslokal stand. Ich spürte meine Finger nicht mehr, die Griffe der Einkaufstüten hatten trotz der Handschuhe tiefe Rillen in die Innenflächen meiner

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