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Novemberschnee

Novemberschnee

Titel: Novemberschnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Banscherus
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Hände geschnitten.
    Ich schaute zu dem verfallenen Gebäude hinüber. Auf dem Dach lag der Schnee inzwischen mindestens einen halben Meter hoch. Die zugenagelten Fenster starrten wie die Augen eines Blinden an mir vorbei ins Leere. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Es war, als wartete dort drinnen etwas auf mich, das noch schlimmer war als alles, was ich bisher erlebt hatte.
    Als ich durch die Küchentür ins Haus trat, war es still.
    »Ich bin wieder da!«, rief ich. Meine Stimme verlor sich in den Sälen und Kammern, die an die Küche grenzten.
    Nach einer Weile hörte ich Schritte. Unwillkürlich wich ich zur Tür zurück. Dann kam Tom in den Raum. Sein Gesicht war kreidebleich, in seinen Augen war ein Ausdruck, der mich frösteln ließ. Sein Pullover war am Bauch völlig verschmutzt.
    »Na endlich«, sagte er. Seine Stimme klang so wie immer. »Ich bin vor Hunger fast gestorben.«
    Er kam auf mich zu und streckte die Hand nach den Einkaufstüten aus. Ich wich noch weiter zurück, fiel fast über die Türschwelle.
    »Was ist los, Lina? Du, ich hab Hunger!«
    Ich reichte ihm eine der beiden Tüten. Er riss die Packungen mit den belegten Brötchen auf und begann gierig zu essen.
    »Lass Jurij was übrig«, sagte ich.
    »Der ist weg«, sagte Tom mit vollem Mund.
    »Weg?«
    Tom nahm einen großen Schluck Cola. »Abgehauen«, sagte er.
    »Aber er konnte doch gar nicht laufen!«, rief ich.
    »Nicht laufen?« Tom lachte. Das heißt, er versuchte es. Aber es klang eher wie das Bellen eines Hundes. »Wie ein Wiesel ist er gerannt«, sagte er.
    Hier stimmte was nicht. Ich hatte genau gesehen, wie Jurij mit dem Rad gestürzt war. Niemand hätte einen Tag nach solch einem Sturz wieder rennen können.
    Ich setzte mich Tom gegenüber auf den Boden. Trotz des Abstandes zwischen uns roch ich Schweiß und ungeputzte Zähne. Wenn ich es im Halbdunkel richtig erkennen konnte, waren die großen Flecken auf seinem Pullover kein Dreck. Nein, das musste Blut sein.
    Tom legte das erst halb aufgegessene Brötchen neben sich auf den Boden.
    »Ich dachte, du hast Hunger«, sagte ich.
    »Die Dinger schmecken nicht«, sagte er.
    Das stimmte nicht. Auch wenn mir hinterher schlecht geworden war, hatte ich nie bessere Brötchen gegessen. »Was ist passiert?«, fragte ich.
    Tom reagierte nicht.
    »Was ist passiert?«, wiederholte ich.
    Jetzt schaute mich Tom an. »Er wollte an das Geld«, murmelte er.
    »An das Geld?«
    Er nickte. »Jurij hat gedacht, ich schlafe. Da hat er versucht mir das Geld wegzunehmen.«
    »Und dann?«
    »Wir haben uns geprügelt.«
    »Und weiter?«
    »Als ich mit Jurij fertig war, hab ich ihm gesagt, dass er keinen Pfennig kriegt.«
    »Wo ist er hin?«, wollte ich wissen.
    Tom zuckte die Schultern. »Zur Straße.«
    »Meinst du, er alarmiert die Polizei?«
    »Quatsch«, antwortete Tom. »Der haut sich doch nicht selbst in die Pfanne.« Er schob mir die Tüte zu. »Iss was«, forderte er mich auf.
    »Hab schon«, sagte ich. Dann reichte ich ihm die Zeitung. »Die alte Frau ist tot.«
    »Fahrradbande«, sagte Tom, als er mit Lesen fertig war. »Die haben sie ja nicht alle.«
    »Die Frau ist tot«, wiederholte ich.
    »Was kann ich dafür?«, rief Tom. »Hier steht, sie war achtundsiebzig!«
    »Du hast sie zu Tode erschreckt. Macht dir das gar nichts aus?«
    Statt auf meine Frage zu antworten, stand Tom auf. Ich konnte deutlich sehen, wie er dabei sein Gesicht verzog.
    »Tut dir was weh?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. Langsam ging er hinüber in die Kammer, in der wir geschlafen hatten. Ich lief hinter ihm her. In dem Raum roch es irgendwie verbrannt.
    »Wieso steht in der Zeitung, dass du den Kassierer mit der Pistole bedroht hast?«, fragte ich. »Wir hatten unsere Waffen doch gar nicht mitgenommen.«
    Tom ließ sich schwer auf die Vorhänge fallen, die den Boden der Kammer bedeckten. »Der Typ lügt«, sagte er leise. »Der kann nicht zugeben, dass er mir die Scheine freiwillig gegeben hat. Die Bank ist schon zweimal überfallen worden, stand in der Zeitung. Wahrscheinlich hat der alte Knacker die Nerven verloren.«
    »Und was ist mit den anderen?«, fragte ich weiter. »Wie können die behaupten, dass du sie bedroht hast?«
    »Du bist vielleicht naiv!« Tom lachte verächtlich. »Die stecken alle unter einer Decke.«
    Es konnte so sein, wie er sagte. Aber vielleicht hatte Tom seine Wasserpistole ja doch in die Bank mitgenommen. Und er hatte sie gezogen, als er glaubte, er wäre allein im Kassenraum. Er hatte

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