Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
Fantasie freien Lauf zu lassen. Dann verbrachte sie wieder eine Nacht in Nethernox – als Nox Eterna. Sie fand es nicht weiter schlimm. Eine Nacht Urlaub vom Gutsein – das setzte Energien frei.
Der Frühsommermonat verlief ansonsten ohne besondere Ereignisse, mit Ausnahme der Tatsache, dass Alan nicht mehr ganz so häufig in Annes Nähe zu sehen war, was aber in ihren Augen kein Nachteil war. Denn immer dann, wenn sie seine Hilfe tatsächlich brauchte, war er einfach da. Er schien so etwas wie einen sechsten Sinn zu besitzen, was Anne und ihre Bedürfnisse betraf.
VI
11. Juli 2010
16. Geburtstag – Anne beließ es bei Tee und selbst gebackenem Kuchen für ihren engsten Kreis. Alan, Silly, ihre Eltern. Keine Party, keine Geschenke. So hatte sie es sich gewünscht, und nur ihr Vater tanzte aus der Reihe: Er schenkte ihr 50 £ als finanzielle Grundlage für ihren Führerschein. Anne war ihm deshalb nicht böse, sie würde das Geld brauchen können.
So war es also, wenn man sechzehn war. Sie fühlte sich in gewisser Weise erwachsen, allerdings auch nicht erwachsener als gestern, als sie noch fünfzehn war. Sie hatte sich in ihren besonderen Gegebenheiten eingerichtet, hatte ihren Platz in der Tagesrealität gefunden und verstand es jetzt zugleich, die Kräfte der Nacht recht geschickt zu steuern.
Ja, die magischen Möglichkeiten rückten wieder deutlicher in den Vordergrund von Annes Denken. Sie machte sich ein Vergnügen daraus, ihre nächtlichen Schandtaten in Tagträumen vorwegzunehmen, beließ es aber häufig bei der Vorstellung und fragte sich, wie ihre Traumvisionen, wenn sie diese denn träumen würde, wohl ihre Entsprechung in der Wirklichkeit finden würden.
War es sicher, dass Pfarrer Liffles an Messwein ersticken würde, wenn Nox ihrem leitenden Tempelpriester einen Gifttrank verabreichen ließ? Was würde dem dicken John Harrington zustoßen, wenn Nox seine Entsprechung im Traum, den dicken Troll Tingo, teeren und federn ließe? Irgendein Unfall mit Klebstoff und Federn in Bisleys Bettengeschäft?
Eigentlich genügten ihr aber die Vorstellungen von Rache in zunehmendem Maße nicht mehr. Ihre Gegner hatten es – zumindest in ihrer Fantasie – nicht einfach, sie verschaffte sich in ihren Planspielen Vorteile, wo sie diese brauchte, warf realen Konkurrentinnen und Konkurrenten in ihren geistigen Rachefeldzügen Steine in den Weg und nutzte dabei auch scharfe Waffen.
Sie säte Unfrieden in den Drehbüchern des Bösen in ihrem Kopf, ja sogar Hass, um das Leben zu führen, dass sie sich wünschte und führte Taten aus, die sie in der Wirklichkeit wegen ihrer moralischen Vorstellungen und wegen ihres ausgeprägten Sinnes für Gerechtigkeit nie ausführen würde – obwohl sie sich da manchmal nicht mehr sicher war. Verlor sie ihre Moral, büßte sie ihren aufrechten Charakter ein, seit sie mit Nox zu schaffen hatte?
Seit neuestem beobachtete sie eine Art Zwangshandlungen an sich – ihre Hände fühlten sich ständig schmutzig an, sie wusch sie jetzt viel häufiger als früher, an manchen Tagen mehrfach hintereinander innerhalb von Minuten. Auch machte sie die Beobachtung, dass dort, wo ihre Finger einen Gegenstand berührt hatten, seltsame Flecken zu sehen waren, merkwürdige, formlose und schmutzig wirkende Veränderungen der Oberfläche, die beim nächsten Lidschlag wieder verschwunden waren. Anne fragte sich, ob nur sie die Spuren ihrer unreinen Hände bemerkte und begann bald darauf, sicherheitshalber mit einem feuchten Tuch dort nachzuwischen, wo ihre Finger mit einem Gegenstand in Kontakt gekommen waren. Kämpfte sie gegen die Male des Bösen? Sie hatte Mühe, diesen Gedanken immer wieder zu verdrängen.
Auf jeden Fall hatten ihre Planspiele Folgen für ihre Alltagswahrnehmung – mittlerweile teilte sie die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, in Rache-Kategorien ein, stellte sich vor, wer was erleiden würde, wenn der Tag der Abrechnung käme. Hier die leichteren Vergehen für das Fegefeuer, dort die mittelschweren Fälle für einschneidende Strafmaßnahmen und schließlich die Gruppe der Verbrecher, die sich schwerer Vergehen an Anne und ihrem Selbstwertgefühl schuldig gemacht hatten, ausgeliefert der Hölle, die Nox Eterna zu entfachen in der Lage war.
Der Tag der Abrechnung? Würde er kommen? In welchen Kategorien hatte sie zu denken begonnen? Wurde sie jetzt eins mit Nox, hatte diese Besitz von ihr ergriffen? Anne war sich ihrer selbst nicht
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