Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
mehr sehr sicher.
Sie entwickelte für sich eine Art Ritual der Abgrenzung: Dort irgendwo, im Reich der Nacht, hauste dieses verwerfliche und verderbte Geschöpf, Nox, die schwarze Magierin, deren Macht sie manchmal nutzte – einfach nutzen musste.
Aber wenn sie sich vor den Spiegel in ihrem Zimmer stellte und ihren unschuldigsten Gesichtsausdruck wählte, war sie die gute Tochter, die ordentliche Tagexistenz und die gute Freundin, die ihr aus dem Spiegel zulächelte. Nur sie, die gute Anne, war wirklich. Sie liebte dieses beruhigende Spiegelbild, das ihre Schuldgefühle ebenso verdrängte wie ein Gefühl einer Gefahr. Nox war nicht wirklich.
30. Juli 2010
Ferien. Wochenlang keine Schule. Ein heißer und langer Sommertag reihte sich an den nächsten, die Wiesen am Fluss standen hoch, Menschen und vielleicht auch Elfen verschwanden darin, rochen Düfte von Blüten und Kräutern, lauschten stumm den Lauten der Natur, genossen die Wärme und die beruhigenden Geräusche des Flusses.
Und noch etwas war ganz großartig an diesem Sommer: Anne war allein zu Haus. Nach langem Bitten und betteln allein zu Haus. Ihre Eltern besuchten Verwandte in Irland, und Anne schätzte zwar die kuriosen Geschichten von Onkel Desmond und die fürsorgliche Art ihrer Tante Mandy, hatte aber nicht die geringste Lust, dort mit ihren Eltern ihre Ferien zu verbringen. Vermutlich hätte sie sich zu Tode gelangweilt, wenn sie mitgefahren wäre. So gehörte das ganze Haus volle drei Wochen ihr allein – oder genauer gesagt, und das wurde Anne erst im Laufe der nächsten Tage klar, es gehörte ihr und ihren Freunden.
Es waren wunderbare Tage. Sie und Silly konnten auf den Liegestühlen im Garten in der Sonne Stunden verstreichen lassen, ohne einen Finger zu rühren. Sie bewegten sich allenfalls, um nach einem Glas mit eiskalter Limonade zu greifen. Dann wieder führten sie sich ziemlich verrückt auf, schleppten die Lautsprecherboxen in den Garten, malten sich gegenseitig mit Sonnenmilch Muster auf die Haut, trugen alte Oberhemden von Annes Vater als kuriose Sommerkleider oder duschten unter dem Rasensprenger, wenn ihnen zu warm wurde.
Oft gesellte sich abends Alan zu ihnen, sie sahen dumme amerikanische Fernsehserien und nacheinander drei oder vier Spielfilme, ohne dass ihnen irgendjemand mit mahnenden Worten die Stimmung verdarb. Silly mixte irrsinnige Cocktails, in denen auch manchmal alkoholische Zutaten aus den Vorräten von Annes Vater Verwendung fanden, und gab ihnen vollmundige Namen wie „Silly’s Silly Dream“, „Frankenstein’s Cough Mixture“ oder „The Witches Brew“. Berauschende Zutaten waren eigentlich nicht nötig, denn sie erlebten diese Tage wie verzaubert, in einer sanften, aber stetigen Euphorie.
Die Wirklichkeit war nicht anwesend: Sie aßen, ganz nach ihrem Appetit und ohne auch nur an Mahlzeiten zu denken, worauf sie gerade Hunger hatten. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, aber niemand störte sich daran, und hätte nicht Alan hin und wieder die Spülmaschine gefüttert, hätten vermutlich Kakerlaken und anderes Ungeziefer das Haus übernommen. Nachts schliefen sie in Hängematten zwischen den Bäumen im Garten oder – weniger romantisch, aber umso gemütlicher – auf dem Sofa vor dem Fernseher. Alan hatte seltsam duftende Räucherstäbchen mit einem schweren, fernöstlichen Aroma mitgebracht, gegen die Mücken, sagte er, aber Silly konnte ihren Rauch wie verzückt einatmen und dabei ebenso lustig wie verklärt die Augen verdrehen.
Die Morgensonne hatte mit jedem weiteren Tag mehr Mühe, sie wach zu bekommen. Ohne Alans Besuche in der nahe gelegenen Bäckerei wären sie vermutlich glücklich verhungert, denn der Kühlschrank war mittlerweile leer und auch die Vorräte in der Gefriertruhe waren arg geschrumpft. Aber ohnehin hatte niemand Lust zu kochen, und in der Sommerhitze genügten ihnen ein großer Eisbecher nachmittags und abends eine Pizza, die sie sich meist noch teilten. Selbst Puck stellte sich auf die neue Art der Ernährung ein, fraß alles durcheinander, schien aber ausgesprochen zufrieden damit zu sein. Alles war wundervoll chaotisch – sie vergaßen das Datum und die Uhrzeit und lebten in einem zeitlosen Sommer, von dem sie hofften, dass er nie enden würde.
4. August 2010
Hätte jemand zu Anne gesagt, dass sich ihr einfaches sommerliches Glück noch würde steigern lassen, so hätte sie ihn für verrückt erklärt. Tatsächlich, an einem der folgenden
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