Nr. 13: Thriller (German Edition)
Ausdünstungen der Frau zu entgehen. Eine Wolke aus Schweiß und Ammoniak umgab sie. Vielleicht war ihr Blutdruck zu hoch oder sie litt an Diabetes oder beides, was bei ihrem Übergewicht nahelag.
Maries Großmutter Liselotte hatte ebenso transpiriert, bevor ihre Medikamente richtig eingestellt waren. Als ihr breiter Hintern nicht mehr in den Küchenstuhl passte, verbot ihr Mann Gustav ihr, das Haus zu verlassen, weil er sich für sie schämte. Aus Frust, aber auch aus einem niederträchtigen Grund aß Lisel, wie sie genannt wurde, noch mehr. Nach einigen Monaten konnte sie das Bett nicht mehr verlassen. Gustav musste sie bedienen und waschen. Auf diese Weise rächte sie sich an ihm. Über die Jahre wurde aus Liebe Hass. Marie vermutete, dass Irene Bast, ihre Mutter und somit Lisels Tochter, wegen dem häuslichen Terror davon besessen war, schlank zu bleiben, und Marie erzogen hatte, Essen als Notwendigkeit, ja, geradezu als Übel zu betrachten.
Die Heizung war voll aufgedreht. Marie schwitzte. Nachdem sie den Mantel von den Schultern gestreift und ihren Schal gelockert hatte, holte sie ihr Werkzeug gegen das Verbrechen aus ihrer Tasche und breitete es auf dem Tisch vor sich aus: Zeichenblock, Graphit- und Kohlestifte, Papierwischer, Wildlederlappen und mehrere Radiergummis.
Beim Frühstück hatte Daniel ihr das erste Mal seit ihrer Kollision wieder direkt in die Augen geschaut. Er hatte ihr von seinem aktuellen Fall berichtet und sie nach Absprache mit dem Fuchs gebeten, die alte Frau aufzusuchen, da sie bettlägerig war und nicht aufs Präsidium kommen konnte, um den Mörder zu beschreiben. Zwar hatte Marie für alle Fälle einen Laptop der Polizei mit einem Face-Design-Programm dabei, aber sie bevorzugte Handarbeit. Ihrer Meinung nach konnte man dadurch die Nuancen besser herausarbeiten. Die Phantomzeichnungen wurden realistischer, wenn sich die Zeugen allein auf ihre Erinnerung konzentrierten. Die Beispiel-Bilder konnten auch verwirren. Zudem hielt Marie auch Statur, Haltung und das Tatumfeld fest.
Marie zeichnete in schwachen Schattierungen ein Fenster auf. Einen Abgleich mit der Realität würde sie gleich nach diesem Treffen machen. „War der Täter eher groß oder klein?“
„Er konnte der Frau so eben auf den Kopf spuckn.“ Frau Hamacher rieb über ihren Ringfinger, als hätte sie dort vor Kurzem noch einen Ring getragen. „Aber er stieß nich an die Zimmerdecke oder so.“
„Wie weit stand er vom Fenster entfernt?“
„Weiß nich. Durch das Fernglas sieht alles anders aus. Außerdem haben se sich bewegt, gekämpft, wissen Sie?“ Mit der flachen Hand strich die Greisin über ihre mit Altersflecken übersäten Arme.
„Möchten Sie, dass ich Ihnen das Stück Kuchen anreiche?“
„Nee. Kein Hunger seit …“
„Aber den Kaffee möchten Sie doch bestimmt trinken?“ Beides stand auf dem Nachttisch, doch die alte Dame hatte nichts angerührt.
„Will gar nichts. Nur Gitte zurück.“ Frau Hamachers Augen wurden feucht. „Schon immer ist se gerast wie Schumi. Wie oft hab ich gesagt: Fahr langsam, Mädchen. Als ich noch laufen konnte. Sie sagte: Hab alles unter Kontrolle, Mama. Aber da braucht ja nur ein Karnickel übern Weg laufen und schon …“
„Der Unfall Ihrer Tochter tut mir sehr leid“, sagte Marie, erstaunt darüber, dass die Zeugin klarer bei Verstand war, als man ihr mitgeteilt hatte. Sie schob das auf die fachmännische Betreuung, denn ihre Tochter hatte es laut Daniel mit den Beruhigungsmitteln übertrieben.
„Wir haben uns immer gestrittn wie die Kesselflicker. Das war alles an Spaß, den ich hatte!“ Tränen rannen über die Wangen der alten Dame. Sie wischte sie mit dem Ärmel ihres Nachthemds weg. „Hier redn alle so wischiwaschi, als wär ich nich ganz bei Trost. Und qualmen darf ich auch nich.“
Marie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie stellte sich vor, dass ihre Mutter gestorben wäre, und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass sie nichts empfand. Höchstens ein bisschen Erleichterung. Erst die Vorwürfe an Daniel, der schon genug vom Schicksal geplagt wurde. Nun diese bösen Gedanken zu ihrer Mutter. Marie war wirklich ein schlechter Mensch geworden, stellte sie fest.
„Gitte hat mir immer über die Haare gestrichen. Hab sie nicht mehr geschnitten, seit mein Mäxchen starb.“ Sichtlich stolz betrachtete sie ihren langen Zopf. „Die Schwester will sie abschneiden. Sie sind ihr lästig. Erst verliere ich meine einzige Tochter, dann mein Zuhause, meine
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