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Nuhr, Dieter

Nuhr, Dieter

Titel: Nuhr, Dieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuhr auf Sendung
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respektive visuell zu demonstrieren. Man könnte auch sagen:
ästhetisch, ikonoklastisch, das heißt innovativ zu sein in kreativer
Zerstörung traditioneller Bildwelten, neues Schaffen durch Dekonstruktion des
Alten. Auch Zerstörung ist Kunst!
    Der chinesische Künstler Ai Weiwei beispielsweise hat
einen Turm aus jahrhundertealten Türen und Fenstern chinesischer Tempel
gebaut. Und jetzt ist dieser Turm zusammengebrochen, weil er dem Wind nicht
standhalten konnte, wobei in Kassel mit Wind natürlich nicht zu rechnen war.
Weiwei hat gesagt, das sei jetzt viel schöner so und würde auch die Gewalt des
Verschwindens in der Moderne visuell erfahrbar machen. Wohl wahr.
    Auf dieser documenta ist schon einiges verschwunden. Da
wurde ja auch dieser spanische Kochkünstler eingeladen mit großem Tamtam, und
jetzt ist er gar nicht da, er könne »sein Restaurant in Spanien nicht allein
lassen«. Ein schönes Sinnbild der Kunst: Der Künstler kann nicht, er muss
kochen. Es ist schließlich auch eine Erfahrung, wenn der Künstler plötzlich
wegbleibt. Wie sagte noch der Kurator? Er sei sich bewusst, dass da jetzt eine
Frustration sei. Aber auch Frustration sei eine wichtige Erfahrung.
    Das Kunstwerk ist also gar nicht mehr das, worum es geht,
sondern das Werk stellt nur einen Teil der Erfahrung dar. Deshalb zeigt man da
auch nicht einfach einen Film oder ein Foto, sondern es wird im Fotografieren
auf das Medium Foto Bezug genommen. Man erfährt dort also, was man künstlerisch
erfahren könnte, wenn das Werk nicht nur um sich selbst kreisen würde.
    Die documenta selbst, so habe ich gelernt, sei eine Erfahrung,
also ein Kunstwerk, das Erfahrungen ermöglicht, heißt es. Immerhin ist das auch
eine Erfahrung, wenn die Ausstellung selbst zur Kunst wird, wenn also der
Ausstellungsmacher alle Künstler zu Teilerfahrungen seines eigenen Werkes erniedrigt,
um mir wiederum die Gesamterfahrung zu ermöglichen. Ich gehe jetzt Kaffee
trinken beziehungsweise werde die Erfahrung des Kaffeetrinkens im Bewusstsein
der großen Komplexität alles Erfahrbaren machen. Das klingt doch gleich ganz künstlerisch
- oder wie der Kunstheoretiker sagt: artifiziell. Zwischen künstlich und künstlerisch
gibt es ja auch Schnittmengen. Das könnte man bei der nächsten documenta einmal
thematisieren.
     
    Gut und böse 20. August
2007
    Neulich bin ich Aufzug gefahren, und da fragte ein kleiner
Junge seine Mutter: »Ist der gut oder böse?« Und er deutete dabei auf einen,
der im Aufzug mitfuhr, eine ziemlich peinliche Situation. Allerdings muss man
da natürlich Verständnis haben. Es ging dem Jungen ganz offenbar um
grundsätzliche ethische Paradigmen. Aber seine eigene Mutter im Beisein von
anderen nach dem Wesen von »gut« und »böse« zu fragen, das zeugt schon von
unglaublicher Hinterlist, ein durchtriebenes Bürschchen! Schon in so früher Kindheit
die Eltern auf sokratische Art in die erkenntnistheoretische Defensive zu
treiben!
    Was heißt schon gut, was ist böse? Natürlich ist Fußpilz
eine böse Sache. Andererseits hat ein Fußpilz die geradezu moralische
Verpflichtung, seinen Seinszweck, also das Besiedeln von Zehenzwischenräumen,
gemäß seiner Bestimmung auszuleben. Dies ist seine natürliche Funktion im
Rahmen der Schöpfung! Der einzelne Pilz ist ja nicht moralisch verantwortlich
für das Wesen seiner Art. Er ist ja auch nur ein Geworfener, weder gut noch
böse im existentialistischen Sinne. Wie kann ein so kleiner Junge so komplexe
Fragen aufwerfen? Im Aufzug!
    Wahrscheinlich ist ihm da klar geworden, wie einfach das
Physikalische zu beurteilen ist, das Oben und Unten, versinnbildlicht durch
den Aufzug. Aber das Ethische! Es entzieht sich der Objektivität! Gut, nicht
immer! Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht. Ganz objektiv! Beispiel:
Lederschlipse. Vereinzelt sieht man ja jetzt wieder Lederschlipse. Das tut man
nicht. Der Lederschlips an sich ist böse - denn er ist hässlich! Wer
Lederschlipse trägt, der schlägt auch kleine Kinder, nicht alle, vielleicht,
aber die meisten.
    Oder Hosen, deren Bund oberhalb des Bauchnabels liegt! Das
kommt ja jetzt auch wieder. Das ist böse. Oder Mord, Totschlag ... und mit 90
auf der Mittelspur langtuckeln, das ist alles böse, böse, böse ...
    Da sieht man auch, dass das Böse immer an ein Subjekt gekoppelt
ist. Das hat der kleine Junge im Aufzug gut erkannt. Der hat diesen Mann mit
dem Lederschlips gesehen und gefragt: »Ist der böse?« Und die Mutter hat
»Nein« gesagt. Und den

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