Nukleus
großzügig genug geschnitten war, um die darunter liegende Fleischfülle auf appetitliche Weise zu bekleiden, und dessen ursprünglicher Farbton bereits größtenteils Opfer dunkler Schweißflecken geworden war. Während er redete, fuhr er sich unablässig mit einem großen Taschentuch über Stirn, Hals und Wangen. Er atmete keuchend, und wenn er sprach, klang es, als hätte er Polypen.
Er reichte Julian eine daumendicke Taschenlampe. Julian schob Annikas Augenlider hoch und richtete das Licht auf die Pupille. Ella konnte sehen, dass die linke Pupille stark geweitet war, als hätte jemand Belladonna darauf geträufelt – ein unverkennbares Symptom für eine lebensbedrohende intrakranielle Blutung.
»Ich habe Angst, dass der Splitter zu wandern beginnt«, sagte Fle ming. »Wenn das Hämatom nur nicht so dicht am Hirnstamm wäre …«
»Ja«, sagte Julian, »wenn. Wie sind die Körperfunktionen?«
»Den Umständen entsprechend normal.«
Erneut betrachtete Julian die schwarzweißen Röntgenbilder von Annikas Gehirn, hielt sie gegen das Neonlicht an der Decke. Der Splitter war auf dem CT deutlich zu sehen, ein länglicher weißer Fleck im grauen Bett der Zellmasse. Auch das Hämatom leuchtete weiß in direkter Nachbarschaft des Hirnstamms. Zusammen mit der ein gedrungenen Luft musste es eine beträchtliche Drucksteigerung im Inneren des Schädels bewirken.
Ella beobachtete Julian, versuchte seine Gedanken zu lesen, so wie er das CT, als er die möglichen Gefahrenquellen durchging, die den Eingriff erschweren oder scheitern lassen konnten. Shirin, dachte Ella; er denkt an Shirin Abou-Khan und dass er sie beinahe verloren hätte.
Die Tür wurde geöffnet, und DI Cassidy trat in den Raum. Sein notdürftig vom Blut gesäubertes Gesicht war mit Pflastern bedeckt. Die buschigen Augenbrauen waren fast gänzlich weggeschmort. Der linke Arm steckte in einer Schlinge, und von seiner verkohlten Lederjacke ging ein scharfer Aschegeruch aus. Die Risse in seiner Hose hatte er mit einem halben Dutzend Sicherheitsnadeln zusammengeheftet. »Nun, Doc, wie sieht es aus?«, fragte er.
Julian runzelte die Stirn. »Sie wollen einen Bericht?« Er sah Ella an, dann wieder den Detective. »Gut. Also, normalerweise hätte ein Ob jekt, das im oberen Nackenbereich eindringt, mit beinahe hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit zum Tod führen müssen. Der Stahl stift steckt immer noch in der linken Gehirnhälfte, wo ich ihn bis auf Wei teres belassen muss, um die Schädigung so gering wie möglich zu halten. Falls er nicht zu einem Infektionsherd wird und die Hirnfunktion beeinträchtigt, braucht er vielleicht überhaupt nicht entfernt zu werden. Leider hat sich im Bereich des Wundkanals eine Blutung gebildet, die auf den Hirnstamm drückt. Dieses Hämatom muss raus, sonst besteht die Gefahr einer dauernden, vielleicht sogar tödlichen Hirnschädigung.«
»Der Hirnstamm steuert sämtliche Funktionen des Körpers«, warf Ella ein. »Er liegt gleich neben dem Kleinhirn, dem Cerebellum. Wenn man in dieser Region mit dem Laser auch nur einen Hundertstel Millimeter vom Weg abkommt, öffnet der Patient nie wieder die Augen.«
Dr. Fleming schürzte skeptisch die Lippen. »Ich fürchte, unsere La ser taugen alle nichts mehr, alter Knabe«, sagte er zu Julian. »Sie werden wohl tatsächlich ganz altmodisch mit dem Skalpell rangehen müssen.«
»Nach Lage des Hämatoms und des Wundkanals kommt praktisch nur eine osteoplastische Trepanation infrage«, erklärte Julian. »Das heißt, ich öffne den Schädel im Nackenbereich noch weiter und dringe bis ins Krisengebiet vor, um so das Hämatom freizulegen. Ein winziger Ausrutscher in diesem Gebiet, und wir haben die schönste Vorlage für ein apallisches Syndrom. Das heißt, selbst wenn der Patient aus dem Koma erwacht, ist er vielleicht für immer unfähig zu sprechen, kann nicht mehr sehen oder nicht mehr richtig schlucken. Oder sein Gesicht bleibt für immer gelähmt. Oder er versteht Sie nicht mehr, wenn Sie mit ihm reden. Oder er lebt weiter, atmet weiter, der Kreislauf funktioniert, nur sein Großhirn arbeitet nicht mehr, und er verkriecht sich für immer im Koma.«
So würde Anni nicht leben wollen, dachte Ella.
Cassidy fragte: »Wie groß ist die Gefahr, dass sie … dass Dr. Jansen bei dem Eingriff stirbt?«
Julian sah Ella an, nicht ihn, als er antwortete. »Die Blutversorgung des Gehirns erfolgt durch die beiden inneren Kopfschlagadern und die Wirbelschlagadern, die sich im Schädel zur
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