Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
befreite er den halb Bewusstlosen von seinen Fesseln und stützte den kraftlosen, schlaffen Körper ab. Mit einer Hand griff er nach einem Badetuch, legte es Jeremy um die Hüfte, wobei er darauf achtete, dass es nicht mit der verbrannten Stelle am Rücken in Berührung kam. Sheila kam hinzu, blieb aber beim Anblick von Jeremy in der Tür zum Badezimmer stehen, als wäre sie vor eine unsichtbare Wand gelaufen.
»Oh mein Gott«, rief sie, drehte sich um und rannte zurück ins Zimmer. Dann ertönte ein Schrei.
Der Erste Offizier war inzwischen ins Bad getreten, um James zu helfen. Rasch trugen sie Jeremy in die Kabine und legten ihn vorsichtig bäuchlings aufs Bett. Mr Chandan, der sich nach vorn krümmte, stieß eine Tirade an chinesischen Flüchen aus und sah dabei Sheila an.
»Was ist passiert?«, fragte Ross Abbot.
Die beiden Männer vom Sicherheitsdienst schwiegen und sahen zu Sheila, die sich eine Locke aus der Stirn pustete.
James ging zu Mr Chandan und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Geht es wieder?« Dann wechselte er ins Chinesische, und nur die Angst in den Augen von Mr Chandan strafte seinen freundlichen Tonfall Lügen. Der Erste Offizier sah James missbilligend an. »Was haben Sie zu ihm gesagt?«
»Ich habe ihm seine Rechte vorgetragen.«
Im Licht der Kabine wurde das Ausmaß von Jeremys Verbrennungen erst richtig deutlich. James ging davon aus, dass Mr Chandan den Kopf seines Opfers wieder und wieder in den Wassereimer getaucht hatte, um ihn zum Nachgeben zu zwingen. Als das ohne Erfolg blieb, hatte er ihm den Rücken verbrüht. Sheila setzte sich an Jeremys Bett und nahm seine Hand. Er öffnete kurz die Augen, dann fiel er erschöpft in einen tiefen Schlaf. Von der stolzen Gestalt war nichts übrig als ein alter Mann, der die Grenze des Erträglichen erreicht und fürs Erste keine Kraft mehr hatte, sich der Welt zu stellen. Sheila standen Tränen in den Augen, als sie sich James zuwandte, der immer noch neben Mr Chandan stand. »Was sollte Jeremy tun, bevor Sie ihn getötet hätten?«
Mr Chandan antwortete nicht. »Das werden wir schon noch herausfinden«, sagte James.
»Die Polizei, nicht Sie«, berichtigte der Erste Offizier. »Wir danken Ihnen und Ihrer Bekannten für Ihre Aufmerksamkeit, aber das Weitere überlassen Sie bitte uns beziehungsweise der Polizei. Sie wird morgen früh an Bord eintreffen.«
James nickte, während er zu Mr Chandans Schreibtisch ging. »Selbstverständlich. Darf ich fragen, wohin Sie ihn bringen?«
»Wir haben einen Raum, der sich zur Unterbringung straffällig gewordener Menschen an Bord eignet«, sagte Ross Abbot vage. »Machen Sie sich keine Sorgen, er ist bei uns sicher. Morgen wird er von der Polizei abgeholt und verhört werden. Alles wird seinen gerechten Gang gehen.« Er warf Sheila einen bedeutungsvollen Blick zu. »Keine Selbstjustiz.«
Es klopfte an der Tür, und einer der Sicherheitsmänner öffnete. »Na endlich, der Arzt«, sagte Sheila erleichtert. Doch es war nicht der Arzt, sondern Ivy, die sich ebenfalls wieder angezogen hatte. Sie blickte alarmiert in die Runde, und als sie Jeremy auf dem Sofa liegen sah, weiteten sich ihre Augen. »Oh mein Gott, was ist passiert?«
»Wir haben Mr Watts im Bad gefunden«, erklärte der Erste Offizier. »Er wurde gefoltert.«
Ivy ging zu Jeremy und befühlte die Wange des Schlafenden. »Ist er tot?«
»Nein«, sagte Sheila. »Der Arzt kommt jeden Augenblick.«
James ging zu Mr Chandan und hielt ihm ein Blatt Papier vor die Nase. »Ihr Englisch reicht nicht aus, um dieses Testament zu verfassen. Wer hat Ihnen dabei geholfen?«
Mr Chandan starrte an James vorbei. »Niemand.«
»Er hatte einen Komplizen?«, fragte Richard.
James sah ihn ruhig an. »Komplize würde ich es nicht nennen. Eher Chef. Mr Chandan ist mit einem zweiten, unsichtbaren Chef an Bord gekommen. Er war Diener zweier Herrn. Und der zweite Herr wollte auf den Platz des ersten Herren. So war es doch, Mr Watts, nicht wahr? Sie konnten den Tod Ihres Großvaters nicht abwarten. Er hat Sie immer gegängelt, behielt das Ruder fest in der Hand, ließ Sie nicht hochkommen und behandelte Sie genau so, wie er schon Ihren Vater behandelt hatte: wie einen Lakai. Als es dann so aussah, als laufe hier ein Serienmörder herum, sahen Sie Ihre Chance gekommen. Das war die Gelegenheit, sich den dekadenten alten Despoten vom Hals zu schaffen und aus dem Kronprinzen einen König zu machen, nicht wahr? Und das Erbe ein bisschen früher anzutreten. Und
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