Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
verlangt? Was wäre, wenn sie ihn nicht wiederfinden würden? Wenn sie ihn nie mehr finden würden? Entschlossen verdrängte er diese Gedanken. Natürlich würden sie ihn wiederfinden. Die Animateurin hatte recht. Jamie war noch keine drei, ein Alter, in dem so ein kleiner Kerl, der alleinherumlief, unweigerlich auffiel. Bei Frauen würde er sofort den Mutterinstinkt wecken, und sie würden ihn fragen, ob er sich verlaufen habe und wie sein Name sei. Und dann würden sie ihn an die Hand nehmen und zur Rezeption bringen oder einem der Schiffsangestellten übergeben.
Plötzlich war das Schreien eines Kindes zu hören. Es war nicht laut, weil weit entfernt, doch schrill, beinahe panisch. Sheilas Augen weiteten sich.
»Das ist er!« Sie versuchte aufzustehen, doch James hinderte sie daran und drückte sie auf die Sitzwürfel zurück.
»Sie bleiben hier!« Er lief, so schnell er konnte, in die Richtung, aus der das Schreien des Kindes gekommen war. Früher wäre er in weniger als fünf Sekunden vor Ort gewesen, aber jetzt erlaubten ihm seine Knie kaum mehr als ein schnelles Gehen. Dabei hielt er seinen Blick unablässig auf Beinhöhe der Erwachsenen gerichtet, die ihm begegneten oder die er überholte. Doch die Hoffnung, Jamies roten Haarschopf zwischen ihnen zu entdecken, blieb vergeblich. Die Kinder schienen allesamt wie vom Erdboden verschluckt. Nach einer Runde über das Deck kehrte er zu Sheila zurück, die inzwischen wieder aufgestanden war und vor dem Kino hin und her lief. Sie war immer noch sehr blass.
»Es ist meine Schuld«, sagte sie ungewohnt leise. Ihre Stimme hatte alle Energie verloren. »Ich hätte besser aufpassen müssen.« Sie sah James an. »Wir müssen Ivy und Richard informieren. Sofort! Und den Kapitän alarmieren. Und die Security! Nein, besser als Erstes die Security!«
James legte ihr einen Arm um die Schulter. »Jamie passiert nichts, Sie werden sehen.« James wusste, dass zwei Faktoren entscheidend waren, um überzeugend zu sein: erstens dasUmschalten auf eine etwas tiefere Stimmlage. Zweitens, und dieser Faktor war der wichtigere, musste man selbst daran glauben. Der erste Punkt war leicht, es war reine Kosmetik, doch der zweite machte das Ausblenden eigener Zweifel erforderlich. Sheila kannte ihn gut, er forschte in ihrem Gesicht nach Anzeichen von Misstrauen, aber sie sah ihn an, immer noch blass und voller Hoffnung wie ein Ertrinkender, der nach einem Strohhalm greift. »Meinen Sie wirklich?«
»Ich bin ganz sicher.« Doch während James ihr ausmalte, wie eine resolute alte Dame den Kleinen ansprach, ihn an der Hand nahm, ihm ein Eis kaufte und nett mit ihm plaudernd zur Rezeption ging, wo Jamie mit Süßigkeiten verwöhnt und schließlich seinen Eltern übergeben wurde, lief parallel dazu in seinem Kopf ein anderer Film ab, ein hässlicher, ohne Happy End.
James fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, um die Bilder in seinem Kopf zu vertreiben. »Kommen Sie«, sagte er zu Sheila. »Wir gehen zur Rezeption im Atrium, wahrscheinlich ist Jamie dort schon abgegeben worden.« Während sie zu den Aufzügen eilten, zog Sheila ihre Pumps aus, um schneller laufen zu können. James versuchte, sich an jede Einzelheit der Kasperletheater-Aufführung zu erinnern. Es gab nur eine Tür in dem Kino, da war er sich sicher. Wann immer er einen Raum betrat, registrierte er aus alter Gewohnheit augenblicklich, wie viele Eingänge es gab und wo die Notausgänge lagen. Jamie konnte also nur durch den Eingang hinausgeschlüpft sein. Dann dachte er daran, wie sich die Kinder nach der Vorstellung fasziniert um die Animateurin mit dem Hai gedrängt hatten, um ihn zu streicheln. »Zurück!«, rief er plötzlich. »Er ist noch im Kino!«
Schwer atmend stand Sheila, die Schuhe unterm Arm, kurze Zeit später vor dem Kletterlabyrinth und machte der Animateurin nach Luft ringend klar, dass sie den Schlüssel zum Kino bräuchte, weil dort höchstwahrscheinlich ein Kind eingeschlossen sei. Die Animateurin holte den Schlüssel, und gemeinsam hasteten sie zum Kino, doch da öffnete sich die Tür schon von innen, und James kam mit Jamie an der Hand heraus. Jamies Gesicht war tränenverschmiert, aber als er Sheila entdeckte, riss er sich von James’ Hand los, flog in Sheilas weit ausgebreitete Arme und ließ sich herzen und abküssen wie ein Held nach bestandenem Abenteuer.
»Wie sind Sie da reingekommen?«, fragte die Animateurin verblüfft.
»Die Tür war offen«, log James.
Sheila strahlte übers ganze
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