Null-Null-Siebzig - Operation Eaglehurst
sollte, um die Servicekraft nach Maddison zu fragen. Der junge Mann hinter der Bar arbeitete unter Hochdruck. Während er die Milch für den Latte Macchiato des einen Kunden aufschäumte, fragte er mit einem Blick über die Schulter bereits den nächsten nach dessen Wünschen. Von diesem Angestellten, folgerte James, würden sie mit Sicherheit nichts über Mr Maddison erfahren. Selbst wenn er sich ein, zwei Minuten Zeit nehmen würde, um ihre Fragen zu beantworten – für jemanden, der dermaßen unter Zeitdruck stand, war es unmöglich, einzelne Gäste wirklich wahrzunehmen.
»Danke, Sheila, einen Kaffee bitte.«
Wenig später stellte Sheila ein Tablett mit zwei Kaffeetassen und zwei Schokomuffins auf ihrem Tisch ab.
»Die gab es für 50 Pence dazu«, sagte sie und nahm sich die Karte. »Da, sehen Sie, James, die haben wirklich gute Angebote hier. Mittagstisch für 7,99 Pfund, Getränk gratis dazu. Oder hier, bei der Bestellung eines Hauptgerichts aus der Karte kostet das zweite Gericht nur die Hälfte. Haben Sie Hunger, James?«
Er wunderte sich, wie schon oft, über Sheilas gesunden Appetit und darüber, dass sie trotzdem niemals ein Gramm zuzunehmen schien.
»Wir haben doch gerade erst gegessen.«
»Nur Salat«, berichtigte Sheila. »Außerdem ist das schon fast zwei Stunden her. Hier, sehen Sie, es gibt zum Beispiel vegetarischen Gemüseauflauf, oder wenn Sie lieber Fleisch essen, könnten Sie Chili con Carne, Spaghetti Bolognese oder Schnitzel bestellen …«
James wusste, Sheila würde nicht lockerlassen, bis er etwas bestellte. Nahrungsaufnahme war ein Punkt, über den man mit ihr besser nicht diskutierte. »Nun gut, ich nehme ein Schnitzel, dazu ein Bier.«
Sheila nickte zufrieden, nippte kurz an ihrem Kaffee und ging zur Bar, um ihre Bestellung aufzugeben. James sah ihr nach und lächelte unwillkürlich, als er bemerkte, dass zwei Männer sich nach ihr umdrehten. Das lag natürlich an dem unvermeidlichen Minirock, der den Blick auf ihre schlanken Beine lenkte, aber auch an ihrer für ihr Alter ungewöhnlich schwungvollen Art, sich zu bewegen. James beneidete sie darum. Er hasste es, von anderen abhängig zu sein, und empfand seine Gehhilfe als demütigend. Er hätte viel dafür gegeben, seine körperliche Vitalität zurückzubekommen. Die Ärzte waren zwar zuversichtlich, dass James sich im Laufe der Zeit wieder vollständig erholen würde, aber Geduld war noch nie seine Stärkegewesen. Er war es aus früheren Zeiten gewohnt, bewundernde oder neidische Blicke auf sich zu ziehen. Jetzt kam es ihm vor, als würden die Menschen durch ihn hindurchsehen, und wenn er doch einmal einen Blick auf sich gerichtet fühlte, lag meist Mitleid darin. Sein Körper, auf den immer Verlass gewesen war, ließ ihn immer öfter im Stich. Er fühlte sich wie angekettet, als hinge ein Schiffsanker um seinen Hals, der ihn jeden Moment unter Wasser ziehen würde. Wäre sein Körper ein Freund, hätte James die Freundschaft längst aufgekündigt. Echte Freundschaft war seiner Ansicht nach nur zwischen gleich starken Partnern möglich.
»Wie haben Sie sich das eigentlich gedacht?«, fragte Sheila, als sie wiederkam. »Wir haben jetzt den Pub, in dem Mr Maddison höchstwahrscheinlich ein Mal gewesen ist …«
»Mehrmals«, berichtigte James. »Vergessen Sie nicht, die Bonuskarte war beinahe voll.«
»Na gut, dann eben mehrmals. Aber trotzdem: Denken Sie etwa, dass sich hier jemand an Maddison erinnern kann?«
Im Stillen gab James ihr recht. Es war unwahrscheinlich, in einem Pub dieser Größe jemanden zu finden, der sich an Maddison erinnern konnte, selbst wenn er oft hier gewesen war. Die Mannschaft an der Theke bestand aus unterbezahlten und austauschbaren jungen Leuten, die im Schichtdienst arbeiteten. Da war kein Wirt, der alles im Blick hatte und sich persönlich um Stammgäste kümmerte. Es gab wahrscheinlich ein paar Einheimische, die regelmäßig ins »Eight Bells« kamen, um sich mit ihren Freunden zu treffen. Aber Gruppen von Menschen waren nach James’ Erfahrung viel zu sehr auf sich selbst konzentriert, als dass sie sich mit Außenstehenden beschäftigten. Von den Touristen ganz zu schweigen, sie waren die Eintagsfliegen im Mikrokosmos des Pubs. Wahrscheinlich hatte sich Maddison diesen Ort genau aus diesem Grund als Treffpunkt mit wemauch immer ausgesucht: wegen der Anonymität. Hatte Sheila am Ende vielleicht recht, und er hatte sich hier mit einer Geliebten getroffen? Oder gab es einen
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