Nullzeit
rauchte, während Grelle den Bericht las. »Es waren schon zu viele Menschen getötet worden, die den Leoparden hätten identifizieren können …«
»Das ist eine Vermutung, Chef.«
»Darauf verwette ich meine Pension …«
Lumel gab zu, den Mord in der Hafenbar organisiert und den Verdacht auf Martin gelenkt zu haben. Er gestand auch, viele Jahre später den Mord an dem Wachbeamten in der Strafanstalt in Szene gesetzt zu haben, in die Martin verlegt worden war. Nach Lumels Tod wurde Martin vom Cayenner Polizeichef persönlich vernommen, einem anständigen Mann, wie Grelle dem Tenor des Berichts entnahm. Durch Lumels Geständnis und die langen Jahre der Haft total desillusioniert, hatte Martin dem Polizeichef seine ganze Geschichte erzählt. »Ich glaube, ihm war klar geworden, daß er sein ganzes Leben für eine Illusion weggeworfen hatte - für die Illusion der kommunistischen Ideale«, bemerkte der Polizeichef in seinem Bericht. »Ich habe seine sofortige Entlassung veranlaßt. Es wird vermutlich für immer ein Geheimnis bleiben, warum Gaston Martin dazu verdammt war, den größten Teil seines Lebens wie ein Tier dahinzuvegetieren …«
Grelle ließ den Bericht auf den Schreibtisch fallen. »Der Bastard«, sagte er leise. »Um seine Identität auch weiterhin geheimzuhalten, ließ er Leute umbringen und einen Mann lebenslang in dieser schwarzen Dschungelhölle einsperren. Der Himmel weiß, wie viele andere arme Teufel noch um seiner Sache willen sterben mußten - in dem Bericht über den Leoparden habe ich gelesen, daß einige seiner engeren Mitarbeiter noch vor Kriegsende umgekommen sind. Dieser Mann hat wirklich eine blutige Spur hinter sich gelassen …«
Der Präfekt ging mit den Händen in den Hosentaschen in seinem Büro auf und ab. Boisseau hatte seinen Chef selten so aufgebracht gesehen. »Denken Sie immer daran, Boisseau«, fuhr Grelle fort. »Tun Sie Ihren Job, aber widmen Sie Ihr Leben nie einer sogenannten Sache. Sie würden sich in die Hände von Abschaum begeben …«
»Das alles, um den Leoparden zu schützen? Einen toten Mann?«
»Wir werden sehen.« Grelle zog seinen Ledermantel an.
»Ich gehe in den Elysée. Wenn jemand nach mir fragt, wissen Sie nicht, wo ich bin.«
»Ich begreife es noch immer nicht«, beharrte Boisseau. »Die Akten beweisen, daß der Leopard 1944 gestorben ist. Gaston Martin, von dem wir heute wissen, daß er Petit-Louis war, die rechte Hand des Leoparden, sagt, er habe ihn in den ElyséePalast gehen sehen …«
»Wenn zwei Hinweise sich gegenseitig ausschließen, muß man sie prüfen. Genau das werde ich tun«, sagte Grelle brüsk.
Der direkte Weg zum Elysée-Palast hätte über die Rue St. Honoré und die anschließende Rue du Faubourg St. Honoré geführt, aber wegen des Einbahnstraßensystems fuhr Grelle über den Place de la Concorde, die Avenue Gabriel entlang an der amerikanischen Botschaft vorbei und dann die Avenue Marigny hinauf, in der rechts der große ummauerte Garten des Elysée-Palasts liegt. Am Palast angekommen, wartete er, während ein Wachtposten die weißgestrichene Kette zur Erde ließ, und fuhr dann in den Innenhof. Er stieg aus dem Wagen und ging sofort zum Wachhaus.
»Kann ich einmal die Besucherliste sehen?« fragte der Präfekt beiläufig.
Der diensttuende Offizier zeigte ihm das Buch, in dem Datum des Besuchs, Ankunftszeit und Identität jedes Besuchers im Elysée festgehalten werden. Grelle interessierte die Seite, auf der die Namen der Besucher vom Donnerstag, dem 9. Dezember, notiert worden waren - dem Tag, an dem Gaston Martin vor dem Palast gestanden hatte. Er prüfte die Liste der Besucher, die zwischen 19.30 Uhr und 20.30 Uhr angekommen waren; dann, um den Wachoffizier von der Fährte abzulenken, sah er sich noch ein paar weitere Seiten an. »Ich danke Ihnen«, sagte er, ging auf den Hof und ging die sieben Stufen hinauf, die zu den Glastüren des Haupteingangs führen.
Nicht einmal ein Minister hätte so formlos den Palast betreten können, aber Marc Grelle genoß die ganz besondere Achtung Guy Florians. »Er hat keinen politischen Ehrgeiz«, bemerkte der Präsident einmal zu einem Minister, um dessen übermäßigen Ehrgeiz er wußte. »Ich mußte ihn aus Marseille förmlich nach Paris schleppen. Manchmal habe ich das Gefühl, er ist der einzige ehrliche Mann in Frankreich. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen …«
Guy Florian hatte Grelle tatsächlich sein Leben anvertraut. Solange der Präsident sich innerhalb
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