Nullzeit
Sandwich, das ihm heute als Abendbrot genügen sollte. Normalerweise aß er im Chez Benoit zu Abend, einem exklusiven kleinen Restaurant in der ehemaligen HallenGegend, in dem man sich nur durch telefonische Vorbestellung einen Tisch reservieren lassen konnte; er begann, das Lokal zu vermissen. »Ich habe soeben einen Anruf von Peter Lanz vom BND erhalten«, informierte er Boisseau.
»Er hat sich sehr vorsichtig ausgedrückt, hat aber herausgefunden, daß ein sowjetisches Killerkommando am Werk ist. Heute abend haben die Burschen in Freiburg einen ehemaligen Abwehroffizier getötet.« Er machte eine Pause. »Der Name des Abwehrmanns war Dieter Wohl …«
»Einer der drei Namen auf Lasalles Liste …«
»Genau. Jetzt sieht es also aus, als wäre dieses Kommando nur zu dem Zweck entsandt worden, jeden der Männer umzubringen, die auf dieser Liste standen - und die Burschen haben’s geschafft, verdammt noch mal. Alle Kanäle, die uns einen kleinen Einblick in die Zusammenhänge hätten geben können, sind jetzt zu …«
»Die Überwachung von Roger Danchin und Alain Blanc hat nichts ergeben?«
»Nichts …« Der Präfekt runzelte die Stirn. Das Telefon klingelte. Er sah auf seine Uhr. Zehn Uhr abends. Er war erst vor kurzem von dem Flug nach Marseille zurückgekommen, wo der Präsident seine bislang bitterste antiamerikanische Tirade losgelassen hatte. Grelle fühlte sich sehr erschöpft. Wer zum Teufel konnte das sein, zu dieser Zeit? Er nahm ab und schluckte den letzten Bissen seines Sandwichs hinunter. Es war Alain Blanc. »Nein, Herr Minister«, versicherte Grelle ihm, »bislang habe ich keinerlei Verbindung zwischen dem Präsidenten und Lucie Devaud entdecken können … Wir wissen jetzt, daß ihr Vater Albert Camors hieß. Er war ein wohlhabender Börsenmakler, der vor ein paar Monaten gestorben ist und ihr seine Wohnung am Place des Vosges vermacht hat … Nein, mehr wissen wir nicht … Ja, sie muß ein uneheliches Kind gewesen sein … Nein, überhaupt keine Verbindung mit dem Elysée …«
Grelle zuckte die Achseln und legte auf. »Der Kerl macht sich Sorgen wegen eines möglichen Skandals. Wie ich schon sagte, alle Kanäle scheinen verschlossen. Wir können also nur auf den unerwarteten Lichtblick hoffen. Und dennoch, Boisseau, ich habe das Gefühl, daß ich irgendwo etwas übersehe - etwas, was direkt vor meiner Nase liegt …«
»Etwas im Zusammenhang mit dem Kommando? Übrigens, die Fahndung nach dem Mann, den die deutsche Polizei in Freiburg erschossen hat, können wir jetzt aufheben. Hat Lanz Ihnen einen Namen genannt?«... Grelle blickte auf seinen Notizblock. »Emile Bonnard«, erwiderte er. »Und ich erwarte auch nicht, daß die beiden anderen Männer - Duval und Lambert - je wieder bei uns aufkreuzen. Die werden nie wieder nach Frankreich kommen.«
Karel Vanek und Antonin Lansky näherten sich der Paßkontrolle an der französischen Grenze am nächsten Morgen. Es war Mittwoch, der 22. Dezember - der Stichtag, den Borisov ihnen in Tâbor gegeben hatte, um ihre Mission zu beenden. Sie waren auf dem Weg zu Annette Devaud. Sie gingen getrennt zum Schalter der Paßkontrolle. Zwischen ihnen befanden sich ein halbes Dutzend andere Reisende. Vanek legte seinen Paß als erster hin.
»Ihren Paß, bitte …« Der Paßbeamte nahm das Dokument, das Vanek hingelegt hatte, und öffnete es nach einem Blick in das Gesicht des Tschechen. Er verglich das Paßfoto mit dem Gesicht vor ihm. Den Namen hatte er sich schon gemerkt. Vanek wartete mit einem gelangweilten Gesichtsaudruck und kaute an einem Stück Schokolade herum, während er das äußerst attraktive Mädchen hinter sich musterte. Er grinste es anerkennend an, und nach kurzem Zögern lächelte das Mädchen zurück.
»Sie sind geschäftlich in Deutschland gewesen?« fragte der Paßbeamte.
»Ja.«
Der Beamte gab den Paß zurück, und Vanek ging weiter.
Lansky kam wenige Minuten später nach. Vanek hatte vorhin den dritten der Pässe vorgelegt, die er aus Tâbor mitgebracht hatte. Diesmal reiste er als Lucien Segard. Das Foto zeigte einen Mann ohne Schnurrbart. Den Schnurrbart hatte Vanek sich am gestrigen Abend im Waschraum des Kehler Bahnhofs abrasiert, bevor er mit Lansky zu einem kleinen Hotel gegangen war, in dem sie übernachtet hatten. Lansky benutzte jetzt gleichfalls seinen dritten Paß. Er war auf den Namen Yves Gandouin ausgestellt. Die Grenzbeamten waren angewiesen worden, nach zwei Männern Namens Duval und Lambert Ausschau
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