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Nummer Drei: Thriller (German Edition)

Nummer Drei: Thriller (German Edition)

Titel: Nummer Drei: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Lake
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Smith, dort sah ich sie in ihrem Sommerkleid mit den grünen Pflanzenmotiven. Sie wartete auf mich. Ja, ich glaube, sie wartete darauf, dass ich mit dem Lift unten ankam. Ich wollte, dass der Aufzug schneller fuhr, und drückte noch einmal auf den Knopf für das Erdgeschoss. Aber dann hielten wir im ersten Stock an, weil eine Frau mit einem Kinderwagen einsteigen wollte, in dem ein lockenköpfiges Baby schrie. Ich drehte mich um, und eine Sekunde lang war die Frau da unten am KFC immer noch meine Mom.
    Dann wandte auch sie sich um, und sie war um zwei Jahrzehnte und mehrere Hauttöne ganz sicher nicht meine Mom, ganz zu schweigen von den tätowierten kleinen Sternen am Hals.
    Dann passierte etwas mit mir. Direkt vor der Frau mit dem Kinderwagen knickten meine Beine ein, als hätte mir jemand die – wie heißt das noch? – Sehnen und Bänder durchgeschnitten. Mitten in der gläsernen Aufzugkabine, mitten in dem Einkaufszentrum, wo ungefähr achtzig Prozent der Einwohnerschaft von Kingston versammelt waren, gar nicht so weit von meiner Schule entfernt, klappte ich zusammen.
    Es klingt vielleicht blöd, aber erst in diesem Augenblick wurde mir wirklich durch und durch bewusst, dass Mom tot war. Es ist mir nur ein einziges Mal passiert, aber vielleicht können Sie es sich vorstellen.
    Diese umfassende Einsicht traf mich nur ein einziges Mal, aber den Verlust spüre ich jeden Tag. Wenn jemand stirbt, denkt man eben: Jetzt ist es passiert, etwas Schreckliches ist geschehen. Man denkt, man könne trauern, und dann gehe das Leben weiter. Aber so ist es nicht. Ich hatte meine Mom mein ganzes Leben lang gekannt. So ist das nämlich, wenn man eine Mom hat. Ich erinnere mich an sie, an die Wochenenden, an die Ferien und die Geburtstage, an die Kinobesuche, an die Suche nach Würmern im Garten. Alles, was ich sehe, könnte mich an sie erinnern, wenn ich nicht aufpasse. Es könnte ein Bild von ihr oder einen Film in meinem Kopf heraufbeschwören. Sogar ihren Geruch.
    Also kann ich sagen, dass sie nicht nur ein einziges Mal starb. Sie stirbt jeden Tag, immer wieder. Ein Mensch ist nicht nur Kopf, Rumpf, Beine und Arme. Er breitet sich auch in Raum und Zeit aus und macht sich in Habseligkeiten, Bankkonten, E-Mail-Adressen und Erinnerungen bemerkbar. Ein Mensch ist zu groß, um mit dem Wort tot völlig erfasst zu werden. Die Beine, der Kopf, der Körper – das mag alles verschwinden. Aber das andere bleibt. Ein Mensch ist zu groß und bringt sich immer wieder in Erinnerung, wenn man auf etwas stößt, das ihm gehörte, das er einem geschenkt hat oder wenn unerwartet jemand anruft, der nichts von seinem Tod weiß.
    Das alles ging mir durch den Kopf, als ich mit der Geige in der Hand dastand. Außerdem war ich immer noch wütend auf Farouz, weil er praktisch zugegeben hatte, dass er mich im Ernstfall erschießen würde. Dann stellte ich mir die Frage, wie er eigentlich anders handeln sollte. Farouz war ein Pirat. Zuallererst war dies sein Job, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Zudem lebte sein Bruder noch, und Farouz hatte die Möglichkeit, ihn freizukaufen. Hätte sich mir die Gelegenheit geboten, meine Mom zurückzubekommen, dann hätte ich doch auch alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten.
    Vielleicht waren Farouz und ich doch nicht so unterschiedlich.
    Im Übrige n …
    Im Übrigen war es gar nicht so schwer, ihm begreiflich zu machen, warum ich nicht mehr spielte. Ich legte die Geige weg.
    »Meine Mutter hat mir gern beim Spielen zugehört«, erklärte ich. »Sie ist tot, deshalb spiele ich nicht mehr.«
    Da, so einfach war das.
    »Verstehe«, sagte Farouz.
    Und wissen Sie was? Ich suchte seinen Blick und sah, dass er es wirklich verstand.
    Ich ging auf ihn zu. In meiner Kabine gab es ein Bullauge, durch das ich das dunkle, tief im Wasser liegende Schiff der Royal Navy erkennen konnte. Es starrte vor Kanonen.
    »Hast du keine Angst vor denen?« Ich deutete mit dem Daumen zum Bullauge.
    »Vor der Marine? Nein. Machst du Witze?«
    »Aber das ist die Royal Navy! Die haben Hubschrauber, Raketen und große Kanone n …«
    »Und wenn sie mit den großen Kanonen schießen, töten sie auch dich. Wir in Somalia sagen: Dabagaalle ar diley ma aragteen.«
    »Was?«
    »Es heißt, das Eichhörnchen besiegt den Löwen. Wir haben keine Angst vor dem großen Schiff. Wir sind das Eichhörnchen.«
    »Ahmed sagt, ihr seid der Fuchs.«
    »O nein«, widersprach Farouz. »Wir sind das Eichhörnchen. Wir sind klein, und die

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