Nummer Drei: Thriller (German Edition)
siehst so abwesend aus.«
»Das bin ich wohl auch.«
Ich hob die Hand und berührte auf meiner Wange die Stelle, die bei ihm verletzt war.
»Was ist passier t ?«
»Nichts«, wehrte er ab.
»Du machst Witze, oder?«
»Die andere Gruppe der Küstenwache«, erklärte er. »Sie haben mich entdeckt.« Er hob die Schultern. »Es gab einen Kampf. Aber das war nicht so schlimm, denn keiner besaß eine Pistole. Und ich hatte ein paar Freunde.«
Verschwinde aus diesem Raum!, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Verschwinde sofort aus seiner Nähe! Er ist gefährlich.
Aber ich blieb.
Er näherte sich meiner Geige.
»Spielst du?«, fragte er.
Sein Tonfall machte mir klar, dass das Gespräch über sein Gesicht beendet war.
»Nein«, antwortete ich. »Nicht mehr.«
»Ich spiele Oud«, erklärte Farouz.
»Oud?«
»Ein Saiteninstrument, das einer Gitarre oder einer Lyra ähnelt. Es hat einen großen Korpus. Man zupft die Saiten, man kann aber auch auf den Korpus schlagen, um einen Rhythmus zu erzeugen.«
Ich war überrascht, dass Farouz überhaupt wusste, was eine Lyra war.
»Ich bin überrascht – du weißt, was eine Lyra ist.«
»Mein Vater hat an der Universität Musik unterrichtet.«
»Oh, na gut.« Ich wusste bereits, dass sein Vater Professor gewesen war, nur die Fachrichtung hatte er mir nicht genannt.
»Er hat für mich auf der Oud gespielt, als ich geboren wurde«, fuhr Farouz fort. »Im Islam soll der Vater für das Kind ein Gebet sprechen. Ein Gebet soll das Erste sein, was der Säugling hört, das Erste, was ihm der Vater sagt. Aber mein Vater spielte für mich ein altes Lied auf der Oud.«
»Das ist schön«, sagte ich.
»Ja. Aber meine Mutter war wütend. Sie sagte, Musik sei kein Gebet. Mein Vater richtete sich neben meiner Wiege groß auf. › O doch ‹ , sagte er. › Musik ist ein Gebet. Musik ist das schönste aller Gebete. ‹ Diese Geschichte hat er mir oft erzählt.«
Ich lächelte und malte mir die verrückte Szene aus, wie man es eben tut, wenn man eine Geschichte hört. Ich war seinen Eltern nie begegnet, wusste nicht, wie sie aussahen, aber ich hatte ein Bild im Kopf, das ich in Wirklichkeit nie erblickt hatte – die Wiege, den Mann und die Frau im Streit, aber vielleicht trotz aller Wut voller Zuneigung. Und Farouz hatte von der Begebenheit natürlich auch nur durch seine Eltern erfahren.
»Mein Vater liebte die Oud«, fuhr Farouz fort. »Es ist ein sehr altes Instrument, aber natürlich gibt es auch junge Menschen, die darauf spielen. In London lebt ein Mann, der ganz Erstaunliches damit zustande bringt. Wir sehen ihn auf YouTube. Er heißt Aar Maanta. Hast du von ihm gehör t ?«
»Leider nicht.« Ich schüttelte den Kopf.
»Nun ja, vielleicht spiele ich dir mal eins seiner Lieder vor«, versprach Farouz. »Natürlich habe ich jahrelang nicht mehr geübt, nachdem ich mit meinem Bruder Mogadischu verlassen hatte.«
In seiner Stimme lag ein Unterton, den ich noch nicht gehört hatte. Sehnsucht, würde ich sagen.
»Abgesehen von meinen Eltern war der Verlust der Oud das Schlimmste.«
»Aber jetzt hast du eine neue?«
»Ja«, bestätigte er. »Ich habe sie mir gleich nach meinem ersten Einsatz gekauft. Damals war mein Anteil klein, aber er reichte aus, um eine Oud zu kaufen.« Er blickte mich an. »Warum spielst du nicht mehr?«
Ich hob nur die Schultern, weil ich keine Lust hatte, ihm zu erklären, dass es ein Vorher und ein Nachher gab und dass die Geige zum Vorher gehörte. Ich meine, ich hatte ihm ja schon von meiner Mutter erzählt, und er hatte seine Eltern verloren, so viel wusste ich. Deshalb hätte er eigentlich verstehen müssen, warum ich nicht mehr Geige spielte und dass der Gedanke daran unerträglich war, weil ich schon beim Anblick des Instruments an meine Mom denken musste.
Aber wie erklärt man ein solches Gefüh l ? Das ist nicht möglich. Ich glaube, ich kann es heute immer noch nicht richtig schildern. Falls Sie mich verstehen, falls Sie so etwas selbst erlebt haben, dann tut es mir leid.
Ich will nicht weiter ausführen, wie mich der Selbstmord meiner Mutter veränderte. Ich will nur Folgendes dazu sagen, und vielleicht verstehen Sie dann ein bisschen mehr.
Es geschah ungefähr drei Wochen danach. Ich war inKingston im Einkaufszentrum. Es ist ein modernes Gebäude mit gläsernen Aufzugkabinen. Wenn man hinauf- oder hinunterfährt, sieht man die Geschäfte auf den einzelnen Ebenen.
Ich fuhr nach unten, und dort unten beim KFC , auf der Seite von WH
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