Nummer Drei: Thriller (German Edition)
Er zeigte mir die Fotos in seiner Brieftasche. Ich schämte mich, weil ich es nicht gewusst hatte.
»Wunderschön.« Ich meinte seine Frau, aber auch das Baby. Es hatte lockige Haare, riesige dunkle Augen und ein breites Lächeln. Zwei Zähne sahen zwischen den Lippen hervor.
»Ja«, sagte er. »Wir haben es viele Jahre lang versucht. Sie ist unser Segen. Als sie geboren wurd e … Den Spruch, für jemanden sterben zu können, hielt ich immer für dumm. Inzwischen verstehe ich ihn. Als man mir die Kleine in die Arme legte, hatte ich das Gefühl, ich könnte mich für sie in die Luft erheben oder bedenkenlos vor einen Bus springen, um sie zu retten.«
Als er das Foto seines Kindes berührte, schnürte es mir die Kehle zu. Erklären konnte ich es nicht. Er legte einfach nur einen Finger auf ein Foto, wollte damit aber viel mehr ausdrücken. Seine Liebe war spürbar und seiner Stimme anzuhören. Er erzählte, die kleine Melissa könne mittlerweile krabbeln, bewege sich aber nur rückwärts, und sobald sie seine Stimme höre, wenn er um 18 . 00 Uhr über Skype mit seiner Frau spreche, dann lächle sie. Aber seit die Piraten die Jacht gekapert hatten, hatte er natürlich nicht mehr skypen können.
»Ich habe keine Angst zu sterben«, erklärte Felipe. »Aber ich habe Angst, Melissa ohne Vater zurückzulassen. Ich muss für sie da sein und sie beschützen.« Seine Stimme brach, und seine Furcht berührte mich.
So hat mich auch mein Vater geliebt, dachte ich. Er hatte mein Foto herumgezeigt und stolz erzählt, dass ich schon krabbeln könne.
»Tut mir leid«, sagte Felipe. »Die Babys von anderen Leuten sind langweilig.« Er steckte das Foto weg.
»Nein, sind sie nicht«, widersprach ich.
Dann stellte ich ihm viele Fragen über Melissa, und er antwortete mir. Wenn er über sie redete, zeigte er zum ersten Mal seit der Gefangennahme ein aufrichtiges Lächeln.
»Sie kennt so viele Wörter«, sagte er. »Sie hat schon so viel gelernt, es ist ein Wunder. Sprechen kann sie nicht, außer Dada sagt sie nichts. Aber wenn ich ihr vorlese, dann halte ich das Buch, und sie blättert die Seiten um. Wenn ich frage, wo der Ball ist, dann deutet sie darauf. Wo ist die Sonne? Wo ist die Katze? Sie entdeckt alles. Sie ist so klug, viel klüger als ich. Sie wird es im Leben zu etwas bringen.«
Er wandte sich ab und fuhr sich mit den Fingern über die Augen.
»Ic h …«, begann ich, aber dann hielt ich den Mund und legte ihm einfach nur eine Hand auf die Schulter.
Lächelnd wandte er sich wieder zu mir um, und ich verstand plötzlich Dads Reaktion, als ich ihm gesagt hatte, ich wolle in einer Bar arbeiten. Ich hatte angenommen, es sei ihm einfach peinlich. Wenn er in Wirklichkeit aber nur gewollt hatte, dass mich eine Beschäftigung glücklich machte? In diesem Moment hatte ich das Gefühl, ich hielte eine Geige in den Händen, spürte das Gewicht und das polierte Holz und als schlügen die Wellen am Schiffsrumpf den Takt zu einem Stück von Bach.
Ich schüttelte leicht den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Vor Nervosität knackte ich mit den Fingerknöcheln.
»Sie wird viel erreichen«, stimmte ich Felipe zu. »Und du wirst alles miterleben. Du selbst hast auch viel erreicht.«
»Ich bin nur ein Koch«, widersprach er.
»Ein Koch in Somalia.«
Felipe lachte.
»Ja«, meinte er. »Ich habe wirklich viel erreicht.«
Wir betrachteten das Meer vor der Tauchplattform, bis ein jüngerer Pirat auf uns zukam. Es zog mir die Eingeweide zusammen, und ich rechnete mit etwas Schlimmem. Doch er näherte sich verlegen und deutete auf die Kiste, in der die Tauchausrüstung, die Masken und Schnorchel gelagert waren.
»Darf ich borgen?« Er deutete auf einen Schnorchel.
»Willst du dir einen Schnorchel leihen?« Ich machte Schwimmbewegungen. »Willst du schwimmen?«
»Bitte«, sagte er. Seine Stimme klang, als sei er noch sehr jung. Er hatte spärliche Bartstoppeln, dunkle Augen und sah eigentlich ganz gut aus.
»Schnorchelst du?«, fragte Felipe überrascht.
»Ja, aber wir haben kein e …« Er deutete auf die Ausrüstung. »So was.«
»Was ist mit Ahmed?«, fragte ich.
Der Pirat blickte zu dem anderen Wächter hinüber, und der nickte ihm zu.
»Ahmed hat zu tun«, sagte er.
Felipe wandte sich mit einem seltsamen Lächeln an mich.
»Willst du auch schnorcheln, Amy?«, fragte er.
»Das können wir nicht«, gab ich zu bedenken.
»Natürlich können wir.« Er wandte sich zu dem Wächter um. »He, Jamal!« Er deutete auf das
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