Nummer Drei: Thriller (German Edition)
Gitterstäbe. Einfach so, bitte, da hast du.
Elegant wie ein Magier lässt der Aufseher das Geld in der Hosentasche verschwinden. Er nickt, sagt etwas zu mir und lacht.
»Was hat er gesag t ?«, frage ich.
»Er sagt, du bringst mir Glück. Er hat nicht geglaubt, dass ich das Geld beschaffe.«
»Dann lässt er deinen Bruder frei?«, frage ich.
Farouz schiebt eine Hand durch das Gitter und drückt seinem Bruder die Hand. Sein Bruder lächelt, hat aber auch Tränen in den Augen.
»Ja«, antwortet Farouz. »Ja, er lässt ihn frei.«
Ich sehe ihn an, dann den Bruder, der ihm so ähnlich ist, dann wieder Farouz.
»Gut«, sage ich. »Das freut mich für dich.«
Es freut mich wirklich. Ich bin so glücklich, dass ich platzen könnte wie eine schillernde Seifenblase an einem sonnigen Tag, in der alle Regenbogenfarben aufblitzen, während sie in der Luft schwebt, bis sie mit einem leisen Plopp zerbirst und die Tropfen fliegen lässt.
Nein.
Nein, so läuft es nicht ab.
Aber danach stelle ich es mir so vor. Ich stelle es mir immer wieder vor, bis ich die Szene unglaublich lebendig vor mir sehe.
Wie einen Film.
Einen Film, den ich mir ansehen kann, wann immer ich will.
Jetzt kommt der Teil, der wahr ist.
Ich habe die Jacht verlassen und sitze im Beiboot. Wartet!, denke ich. Dann spreche ich es laut aus.
»Wartet, wartet!«
»Was ist denn los, Amybärchen?«, fragt Dad.
Ich stehe auf, steige aus und gehe auf die Stiefmutter zu.
»Fahr du mit Dad!«, sage ich zu ihr. »Ich übernehme das. Ich bin der Kollateralschaden.«
»Mach dich nicht lächerlich!«, erwidert die Stiefmutter. »Du bist noch ein Kind, du kannst das nicht.«
»Ich kann«, widerspreche ich. »Ich bin hier sogar sicherer als jeder andere.«
»Was? Warum?«
»Das verstehst du nicht. Geh bitte! Steig ins Boot! Ich komme bald nach.«
All das geschieht tatsächlich, genau wie ich sagte.
»Was ist da los?«, ruft Tony vom Boot herauf. »Warum dauert das so lange?«
»Amy will bei ihnen bleiben«, erklärt die Stiefmutter. »Sie will mit mir tauschen.«
»Das kommt nicht infrage«, widerspricht Dad.
Ich stoße die Stiefmutter zum Boot.
»Bitte«, sage ich. »Bitte. So ist es einfacher.«
Und dami t …
Damit hört es auf, so abzulaufen, wie ich es beschrieben habe. Nur bis hierher entspricht meine Schilderung der Wirklichkeit.
Dad brüllt mich nicht an und lässt es dann auf sich beruhen. Vielmehr steigt er aus und kommt auf das Deck hoch.
»Amy Fields«, ruft er, »du kommst sofort mit!«
Dann packt er mich an den Armen, hebt mich hoch und hievt mich ins Beiboot. Er wirft mich förmlich hinein, und ich lande auf dem aufgeblasenen Gummi. Der Aufprall ist so heftig, dass mir die Luft aus den Lungen entweicht. Ich liege da und starre Dad an, der hinter mir ins Boot springt.
»Starten Sie sofort den Motor!«, befiehlt er Tony.
Ich bin gelähmt, kann keinen Finger rühren.
Farouz sieht mich an, ich erwidere seinen Blick. Der Schock hat mir den Mund verschlossen, obwohl ich doch protestieren sollte. Ich sollte etwas tun, mich gegen meinen Dad wehren, vom Beiboot hinunterspringen. Den Platz der Stiefmutter einnehmen und bei den Piraten bleiben. Stattdessen fahre ich mit meinem Dad, mit Tony, Damian und Felipe davon. Ich kann mich nicht rühren, aber trotzdem fühlt es sich an, als liefe ich weg.
Tony startet den Motor, der spuckend zum Leben erwacht und röchelt wie ein Todgeweihter. Er legt die Hand an den Rumpf der Daisy May und hält uns in der Dünung auf Abstand.
Dies ist der Moment, denke ich. Dies ist der Augenblick, in dem ich etwas zu Farouz sagen sollte. Aber ich schweige, obwohl ich schon wieder atmen kann, obwohl ich sprechen könnte, wenn ich wollte. Ich sage kein Wort.
Das Funkgerät knistert.
»Hier ist die HMS Endeavour, melden Sie sich! Gibt es Probleme?«
»Kein Problem«, antwortet Tony. »Wir sind unterwegs.« Ahmed hebt die Hand zum Gruß.
»Auf Wiedersehen«, sagt er.
»Auf Wiedersehen«, antwortet Dad automatisch und höflich, wie die Briten es eben tun.
Ich sage immer noch nichts.
Ich denke, es müsste doch mehr Zeit bleiben. Aber hier ist die Lektion, die Sie hoffentlich nie lernen müssen: Manchmal hat man einfach nicht genug Zeit.
Ohne Zeichen des Abschieds lässt Tony den Rumpf los und gibt Gas. Der Außenbordmotor beendet sein Todesröcheln und dreht röhrend höher. Wir entfernen uns rasch von der Jacht.
Erst dann hebe ich den Kopf und sehe Farouz an.
Im Blickfeld Ahmeds und des anderen Wächters
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