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Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden

Titel: Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Seeber
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Raubtier langsam näher kam.
    Susan hatte ihren freien Tag. Eine nichtssagende Rothaarige namens Annette tat Dienst im Altenheim. Sie saß neben dem falschen weißen Christbaum, der mit buntem Lametta geschmückt war, und las eine Boulevardzeitung. Als ich an ihr vorüberging, hob sie kaum den Blick.
    Gar sah verwirrter aus als gewöhnlich, doch sie tätschelte mir liebevoll die Hand, nachdem ich sie umarmt hatte. Die Tatsache, dass ich schon wieder wegfuhr, verursachte mir Schuldgefühle.
    »Hallo, Maggie«, sagte sie. Überrascht sah ich sie an.
    »War mit ihr alles in Ordnung?«, fragte ich Annette, als sie hereinkam, um Gar ihre Tabletten zu bringen.
    »Wie immer eben.« Sie hob die Augenbrauen. »Nicht wahr, meine Liebe?«, brüllte sie Gar ins Ohr.
    »Sie ist nicht taub, wissen Sie«, sagte ich unangenehm berührt. »Nur ein wenig …«
    »Senil?« Die Rothaarige schniefte.
    »Sie ist nicht senil«, zischte ich wütend. »Sie hat Alzheimer. Das ist ein Unterschied.«
    »Wenn Sie das sagen. Sie hatte gestern noch Besuch von jemandem. Das hat sie aufgebaut, nicht wahr, Liebes?« Wieder schrie sie.
    Ich biss mir auf die Zunge. »Sie meinen wahrscheinlich meinen Vater?« Ich stellte den Weihnachtsstern, den ich mitgebracht hatte, auf Gars Nachttisch und sah erst jetzt, dass die Blätterreihe unter den strahlend scharlachroten Hochblättern schon welk war.
    »Nein, nicht Ihr Vater. Ich kenne Bill, ein wirklich gutaussehender Mann.« Eine Minute lang sah sie fast mädchenhaft aus. »Nein, es war eine Dame. Allerdings bin ich nicht sicher, weil ich gestern nicht da war. Leanne erzählte es mir.«
    Eine eiskalte Hand griff nach meinem Herzen. »Wer war das?«
    »Sie sagte, sie sei eine Verwandte. Und dass sie schon früher hier gewesen sei. Ich glaube, sie hat etwas für Vera hiergelassen.« Jetzt hatte die Rothaarige offensichtlich das Interesse verloren. Sie ließ den Deckel der Tablettenschachtel zuschnappen.
    »Und was?«
    »Das muss da drüben sein, auf dem Regal. Da … ein großes Album zum Einkleben von Bildern.« Ich nahm das rot kartonierte Album auf. So etwas hatte ich in meiner Jugend besessen. Ich hatte meine Ferienandenken darin eingeklebt. Neugierig schlug ich die erste Seite auf… und erstarrte vor Schreck. Es waren Familienfotos drin, Fotos von Gar und mir und meiner Mutter. Nur war dort, wo mein Gesicht sein sollte, ein Loch.
     
    »Dad«, sagte ich drängend. »Kannst du bitte Gar aus dem Heim holen?«
    »Wieso das denn?«, fragte er überrascht.
    »Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Ich muss nur einfach nach Pendarlin.«
    »Warum?«
    »Bitte, Dad. Ich muss einfach. Ich mache mir Sorgen. Eine seltsame Frau hat Gar im Heim aufgesucht … und Susan hat frei. Kannst du sie bitte über das Wochenende zu dir nehmen?«
    »Wirklich, Mag, du machst mich schon ganz nervös. Ich …«
    »Ich weiß, was du denkst, aber es geht mir wirklich gut. Ich würde sie ja mit nach Cornwall nehmen, aber ich glaube, so weit kann sie nicht fahren.«
    »Maggie …«
    »Bitte, Dad. Nur fürs Wochenende. Ich bin am Montag wieder da, ich schwöre. Und es ist nicht wie im Sommer, ehrlich nicht.«
    »Aber warum musst du denn unbedingt weg? Und warum jetzt? Was ist denn mit deiner Arbeit?«
    »Ich … ich habe gekündigt«, gestand ich kleinlaut.
    »Aha.« Kurze Pause, dann ein Seufzen. »Nun, das überrascht mich jetzt weniger.«
    »Und ich muss … ich muss einfach aus London raus. Ich brauche Zeit und die richtige Luft zum Nachdenken. Bitte.« Ich hörte, wie meine Stimme schwächelte.
    Noch ein Seufzen. »Gut, wenn es wirklich so wichtig ist für dich, Mag, dann …«
    Ich hätte fast aufgeschrien vor Erleichterung. »Ach, du bist ein Schatz, Dad, ein echter Schatz.«
    »Aber wenn du zurückkommst, Maggie, müssen wir uns zusammensetzen und miteinander reden, okay? Ich mache mir wirklich Sorgen um dich.«
    »Okay.« Lammfromm stimmte ich zu. »Das tun wir auch, ich versprech’s dir.«
     
    Ich fuhr nach Greenwich und holte Digby, den die ängstliche Jenny mehr oder weniger am Küchentisch festgebunden hatte. Nachdem ich mir ihre Predigt angehört hatte - ich solle auf mich aufpassen, ich solle schön essen und vorsichtig fahren, und ich solle vor allem am Montag wohlbehalten wieder hier auftauchen -, umarmte ich sie einen Augenblick lang fest und fühlte mich wie eine Fünfjährige. Dann stieg ich ins Auto. Digbys Atem füllte die Dunkelheit im Wagen mit weißen Wölkchen. Er bellte und konnte es gar nicht erwarten

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