Nur 15 Sekunden
42nd Street hielt.
Oben auf der Seventh Avenue holte ich mir als Allererstes einen Kaffee und einen Bagel beim nächstgelegenen Deli. Während meiner Fahrt durch die U-Bahn -Tunnel war die Sonne aufgegangen, und die übliche Morgenhektik hatte eingesetzt. Ich trank ein paar Schlucke des heißen Kaffees, um die Synapsen in meinem Gehirn vom Koffein auf Trab bringen zu lassen, und ging dann auf das
Times-
Gebäude zu, die braune Tüte mit meinem Frühstück in der einen, dasHandy in der anderen Hand, um Ben anzurufen. Ich musste es zweimal probieren, bis ich endlich seine verschlafene Stimme hörte.
«Ja, Mom?»
«Guten Morgen, Sonnenschein. Zeit für die Schule.»
«Wie spät ist es denn?»
«Fast Viertel nach sieben.»
«Und wo steckst du?»
«Ich habe gerade das Bürogebäude betreten, drücke jetzt den Knopf, um den Aufzug zu rufen, und werde in Kürze keine Verbindung mehr haben. Da ist er schon: achter Stock, siebter, sechster …»
«Erspar mir den Countdown.»
«Heißt das, du stehst jetzt auf?»
«Sag mal, Mom, wer hat denn da gestern ständig angerufen? Das muss ja ’n totaler Spinner gewesen sein.»
«Das kannst du laut sagen. Am besten gehst du auch heute Morgen nicht ran, falls es noch einmal klingeln sollte.»
«Keine Sorge, ganz bestimmt nicht.»
«Und denk dran abzuschließen, wenn du gehst, und …»
«Mom!»
«Ich bin ja schon still. Ich hab dich lieb, Ben. Und ich wünsche dir einen ganz tollen Tag. Nach der Vorstellung warte ich draußen vor der Schule auf dich.»
«Bis dann, Mom.»
In der Redaktion war bereits viel los, als ich hereinkam und zu meinem Schreibtisch ging. Courtney, eine junge Kriminalreporterin, mit der ich mich ein bisschen angefreundet hatte, saß zurückgelehnt in ihrem Stuhl, die langen Beine von sich gestreckt, und telefonierte. Sie hatte sich das glatte, blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, was normalerweise bedeutete, dass sie bis zum Ende ihres Arbeitstages im Büro bleiben würde. Sie hatte langes, glänzendes Haar, dassie bei Terminen gern in seiner ganzen Pracht zur Schau stellte. Ich war gut zehn Jahre älter als sie. Doch der Umgang mit unserer Weiblichkeit, die wir, obwohl sie uns beruflich in mancher Hinsicht bremsen mochte, doch als unverzichtbaren Teil unseres Waffenarsenals betrachteten, hatte uns zu Verbündeten gemacht. Nur über die Einsatzmethoden waren wir uns nicht ganz einig. Courtney trug High Heels und kurze Röcke und ging ganz selbstverständlich davon aus, dass sie es damit noch weit bringen würde. Ich hingegen war der Ansicht, dass ich gar nichts erreichen konnte, wenn ich mich bei der Arbeit so kleidete. Außerdem hatten mich meine bisherigen Erfahrungen gelehrt, dass man es mit Intelligenz und Souveränität sehr viel weiter brachte. Von beidem besaß auch Courtney mehr als genug, aber sie hatte eben obendrein noch ihre langen Beine und das glänzende Haar. Ich machte ihr keinen Vorwurf daraus, dass sie ihre Schönheit zu ihrem Vorteil einsetzte. Und trotzdem hatte ich das ungute Gefühl, dass dieses Spiel mit den weiblichen Reizen irgendwann nach hinten losgehen würde.
Ich zwinkerte Courtney zu und hob zur Begrüßung leicht das Kinn, um sie nicht beim Telefonieren zu stören. Sie hatte mir aber anscheinend etwas mitzuteilen, denn sie deutete auf meine braune Tüte und schüttelte achselzuckend den Kopf. Ich begriff beim besten Willen nicht, was sie mir damit sagen wollte.
Bis ich vor meinem Schreibtisch stand. Die Jalousie war halb heruntergelassen und tauchte die eine Hälfte des Tisches in Schatten. Und auf der anderen Hälfte stand, wie von Scheinwerfern angestrahlt, eine braune Tüte, genau wie die, die ich in der Hand hielt. Offenbar hatte mir bereits jemand ein Frühstück gebracht und es noch dazu liebevoll arrangiert. Der Mohnbagel mit Schnittlauchfrischkäse war in der Mitte durchgeschnitten und lag auf einem weißen Papptellermit gewelltem Rand. Daneben stand ein fest verschlossener Pappbecher mit der Aufschrift I LOVE NEW YORK, wobei «LOVE» durch ein rotes Herz ersetzt war. Vermutlich enthielt er Kaffee. Mit Milch, so wie ich ihn am liebsten trank. Welche meiner Vorlieben hatte Brian gestern sonst noch verraten, als ich mit Joe vor seiner Theke stand?
Joe. Der Schlafräuber. Ich räumte meine braune Papiertüte aus, stellte das Frühstück, das ich mir eben gekauft hatte, auf den Schreibtisch, verstaute das zweite Frühstück in der leeren Tüte und verschloss sie sorgfältig. Dann warf ich alles in den
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