Nur 15 Sekunden
Straße überquerten, als es grün wurde. Ich blickte der Menschenmenge nach, doch als sie sich an der nächsten Ecke zerstreute, war von Joe nichts mehr zu sehen. Ich machte ein paar Schritte vorwärts, spürte den Impuls, ihm zu folgen, und sei es nur, um mich zu überzeugen, dass ich ihn tatsächlich gesehen, dass mein übermüdetes Hirn nicht einfach irgendwen in Joe verwandelt hatte. War er es tatsächlich gewesen? Ich war bereits an der Ecke, als ich hinter mir Bens Stimme hörte.
«Mom?»
Ich drehte mich um und winkte, und er holte mich ein.
«Wo wolltest du denn hin?»
«Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.»
«Sah aus, als wolltest du gehen.»
«Du hast mich ja auch ganz schön lange warten lassen. Wo hast du denn nur gesteckt?» Ich hätte gar nicht zu fragen brauchen, denn natürlich ließ sich mein lieber Herr Sohn nicht zu einer Antwort herab. Also wechselte ich das Thema: «Du warst großartig!» Wir machten uns auf den Weg zur U-Bahn , besprachen die Vorstellung und kabbelten uns, wo wir denn nun essen gehen sollten. Die ganze Zeit hielt ich nach Joe Ausschau, sah ihn aber nicht noch einmal. Inzwischen zweifelte ich schon, ihn überhaupt gesehen zu haben. Müde, wie ich war, hatten meine Augen mir wohl einen Streich gespielt. Letztendlich konnte es jeder beliebige junge Mann gewesen sein, der ihm auch nur ansatzweise ähnelte.
Genau diese Unsicherheit war es, die mich seit Hugos Tod vorsichtig machte: ein völlig neuer und keineswegs willkommener Zweifel an meiner eigenen Wahrnehmung. Möglicherweise hatte ich nur deswegen geglaubt, Joe zu sehen, weil ich so furchtbar müde und er die Ursache dieserMüdigkeit war. Projizierte mein Geist die Ausgeburten meiner Unruhe jetzt schon auf die Straße? Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Vor etwas mehr als einem Jahr war ich felsenfest überzeugt gewesen, Hugo im Wagen an mir vorbeifahren zu sehen. Ich war mir so sicher, dass ich schließlich in heller Panik den Leichenbeschauer der Insel anrief, um mir versichern zu lassen, dass Hugo Mayhew tatsächlich fünf Monate zuvor gestorben war. In diesem Moment hatte ich ernsthaft an meinem Verstand gezweifelt. Das hatte letztlich auch zu der Entscheidung geführt, die Insel zu verlassen.
Irgendwann las ich einmal ein Buch über Witwen mit dem Titel
Der Scheiterhaufen
. Ich war als Kind einer Witwe aufgewachsen, und so beschäftigte mich das Thema schon lange, bevor ich selbst Witwe wurde. Die Psychologie beobachtete eine große Bandbreite an Gefühlen und Reaktionen nach dem Verlust des Ehepartners. Unter Frauen war das Spektrum sehr viel breiter, deshalb konzentrierte sich das Buch auch auf Witwen. Sehr viel mehr Männer als Frauen folgten innerhalb eines Jahres ihrer Partnerin in den Tod, und man glaubte in solchen Fällen tatsächlich, dass sie an «gebrochenem Herzen» starben. Frauen schienen im Allgemeinen widerstandsfähiger zu sein. Viele trauerten eine Zeitlang und machten sich dann daran, sich ein neues, anderes Leben aufzubauen. Andere trugen ihre Trauer ewig mit sich herum und zogen Kraft aus der Erinnerung. Einzelne verweigerten nach dem ersten Schock jede tiefere Gefühlsregung und setzten alles daran, so schnell wie möglich wieder zu heiraten. Manche waren so gebrochen, dass die Wunde nie ganz verheilte, schafften es aber dennoch, ein sinnvolles Leben zu führen. Manche widmeten sich verstärkt der Familie, andere verstärkt ihrer Arbeit. Und einige wenige drehten tatsächlich durch und flüchteten sich in denWahnsinn. Meine Mutter hatte sich ganz auf die Familie, auf mich, konzentriert und sich in ihre Arbeit gestürzt. Mir gefiel der Gedanke, dass ich nun ihrer Tapferkeit nacheiferte.
Anlässe wie dieser Abend mit Ben schenkten mir zusätzliche Kraft. Ich tat nichts lieber, als Zeit mit meinem Sohn zu verbringen, vor allem, wenn wir nicht zu Hause waren, sondern unterwegs, weit weg von allen Verpflichtungen. Ben erinnerte mich so sehr an Hugo, und doch war er nicht Hugo, er war einfach er selbst. Und wuchs immer weiter, blühte auf, hier vor meinen Augen. Trotz allem, was geschehen war.
Wir entschieden uns für nahöstliche Küche und aßen in einem überfüllten Restaurant an der Smith Street. Anschließend schlenderten wir zu Fuß nach Hause und schauten auf dem Weg in die Schaufenster. Ben ließ mich geduldig vor dem Fenster eines schicken Schuhladens stehen und ich ihn ebenso geduldig vor dem Fenster einer Comicbuchhandlung. Als wir nach Hause kamen, war es bereits halb neun.
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